Wolfgang Heidenreich
(Badische Zeitung am 9.Juni 2001)
... Wir sind die EU – und drauß bist du ...!
Aufs ukrainische Lemberg fällt der Schlagschatten Europas
In die alte europäische Kulturstadt Lemberg, das ukrainische L’viv,
startet der Flug zwar vom Frankfurter Gate E 8, der Hintertür zu den
abgelegensten Destinationen. Er schlägt aber die Brücke zum Herzen des
alten Galizien ohne das früher nötige Umsteigen in klapprige Militärmaschinen
ab Warschau direkt auf dem 50. Breitengrad über Prag und Krakau – eine
zweistündige Zeitreise aus dem prallen Euro-Schengen-Deutschland über
tschechisch – polnisches Euro-Erwartungsland ins alteuropäische, vom
Zug der EU- Aspiranten abgekoppelte, ukrainische Abseits.
Hinter uns: Die dominante Bemessungsgröße deutscher Tüchtigkeit -
das Bruttosozialprodukt von 26.570.- USD für jeden der 82 Millionen Einwohner.
Unter uns: Der Teil Europas, in dem 10 Millionen Tschechen ein BSP von
5.150.- USD erwirtschaften. Dann Polen, wo 38 Millionen sich zu einem
BSP von 3.510.- USD hochgerappelt haben. Und dann: Die Ukraine, fast doppelt
so groß wie Deutschland, ein vor 10 Jahren erst aus der Konkursmasse
der Sowjets in eine heterogene und prekäre Eigenstaatlichkeit gelangtes
europäisches Entwicklungsland, in dem 50 Millionen Ukrainer (72 %) und
Russen ( 22 %) ein in den letzten desaströsen 5 Jahren halbiertes BSP
von 980.-USD erreichen. Der statistische Pro-Kopf-Ukrainer erreicht somit
den jammervollen Level der Menschen in Sri Lanka, Usbekistan oder Georgien,
ein Fünftel des tschechischen, ein Viertel des polnischen und ein Siebenundzwanzigstel
des deutschen Niveaus.
Blühende Landschaften? Rapsfelder leuchten herauf, ein über alle Grenzen
gestückelter, nützlich-schöner Teppich, gegenwärtig und gedächtnislos
ausgebreitet auf all diesen geschundenen Feldern der Geschichte mit ihren
Eroberungen, Teilungen, Vertreibungen, Auslöschungen, mit ihren schwärenden
Schnittlinien, die man Grenzen nennt – wie läßt sich all dies überfliegen?
Wir landen in Lemberg; im Blick nicht die grandiose, zerbröckelnde Urbanität
der einst völkerbunten Altstadtquartiere , sondern die sandgrauen Plattenbauvorstädte
im Westen der auf 797 000 Einwohner geschrumpften galizischen Metropole.
60 km sind´s noch von dort, westwärts, bis zu den ukrainisch-polnischen
Schlagbäumen. Käme Polen in die EU, rasselte dort Schengenlands Schutzvorhang
herunter mit Visumspflicht, Nachtsichtspähern, Schleierfahndung.
Im Schlagschatten dieses aufwachsenden Bollwerks rollt die Maschine aus
– aber glaub nicht, du könntest aussteigen und die paar Schritte zum
sowjetbiedermeierlichen Flughafengebäude auf ukrainischer Erde gehen.
Man hat die zögerliche Herankunft eines saurierhaften Busses aus der
frühen Eisenzeit und eine erste Kontrollpantomime auszustehen. Dann steht
man Schlange für Krankenpflichtversicherung, Zolldeklaration (Währungen?
Waffen? Strahlendes Material?), Pass- und Gepäckkontrolle. Während die
Beine im Bauch stehen, entdeckt der Schlangen-Mensch die Zeichen der Zeit:
Man hat hier inzwischen das pathetische Wandbild mit der flaggentrunkenen
Allegorie der Freundschaft der Brudervölker mit der siegreichen Sowjetunion
bräunlich übertüncht. Endlich übersteigt die Wartezeit in den Flughafenfluren
( 2,5 Stunden) die zurückgelegte Flugzeit ( 2 Stunden).
Nun darf der Gast auf den Pflasterwellen hineinschaukeln in die unzerstörbare
Aura der Lemberger Stadtgestalt, vorbei an einem Kulturpalast, der leer
vor sich hinbrütet mit der staubigen Verlassenheit einer Bauruine. Verzweifelt
sucht man nach Zeichen des Aufschwungs und der Regeneration, nach belebter
Geschäftigkeit, restaurierten Fassaden: Was hat sich getan seit unserm
Besuch im Sommer 1998 ? Ja, die griechisch-katholische Sankt-Georgs-Kathedrale,
der religiöse Symbolort einer nach dem lateinischen Westen gewendeten
ukrainischen Nationalkirche, wird hinter wuchtigen Holzgerüsten restauriert.
Ja, da haben die Maler den Ocker, das Moosgrün, den Skulpturenschmuck
einer Fassade wieder zum Leuchten gebracht – aber ganze Straßenzüge
zerbröckeln im Lehm-Gelb und Kalk-Weiß einer wegdämmernden Vergangenheit.
Beim ersten Zusammentreffen der Internationalen Konferenz der Heinrich-Böll-Stiftung
zum Thema „Was folgt auf die Osterweiterung der Europäischen Union?
Der Fall Polen / Ukraine“ im Renaissance-Arkadenhof des Historischen
Museums zelebriert ein Streichquartett Haydns Kaiserhymne („Gott erhalte
Franz den Kaiser“), dann dankt der Organisator Walter Kaufmann für
den Empfang an diesem „mitten in Europa“ gelegenen Ort. Doch Taras
Woszniak aus L`viv entgegnet: „Ich begrüße alle, die aus dem immer
ferneren Europa zu uns gekommen sind....“ Danach wird ein Presseclub
bis in die späte Nacht von den besorgten Fragen nach dem Sturz des prowestlichen
Reformpolitikers und Regierungschefs Viktor Juschtschenko durch die Oligarchenparteien
und die Kommunisten umgetrieben. Es fällt das Wort von der „Schlafenden
Gesellschaft“ der Ukraine und die Frage: „Warum sollen wir das Konzept
des Europas der Regionen nicht auf die Ukraine anwenden?“ Den stolpernden
Heimweg über ungesicherte Baugruben tritt man an in einer unfasslich
unbeleuchteten, in nächtlicher Schwärze versinkenden Großstadt. Da,
an einer Ecke beim lichtlosen Rathaus blinkt etwas Grelles aus der Finsternis:
Was uns hier heimleuchtet, ist ein Geldautomat.
SCHATTENWIRTSCHAFT
In einem vergangenen Jahrtausend, am 3.4.1990, erlebte eine Freiburger
Delegation auf diesem Lemberger Rathausplatz einen historischen Hoffnungsaugenblick:
Eine tausendköpfige Menge starrte hoch zum Flaggenmast auf dem Rathausturm,
an dem an Stelle der eingeholten Fahne der ukrainischen Sowjetrepublik
erstmals die gelb-blauen Farben der nationalen Unabhängigkeit der Ukrainer
in den Frühjahrswind gezogen wurde - und die Menschen sangen, unter Tränen,
leise und mit bewegender Verhaltenheit, als gelte es, die Gegenwart eines
ersehnten Augenblicks nicht durch lauten Jubel zu vertreiben. Und tatsächlich
- die Betonköpfe, deren Sendemasten zum Zerhacken aller einstrahlenden
westlichen Programme die Stadt umringten, schickten keine Soldaten aus.
Die in dieser Stunde der Lichtblicke im Rathaus besiegelte Städtepartnerschaft
zwischen L´viv und Freiburg wurde damals im revolutionären Gestus des
Neubeginns zur „Öffnung in den europäischen Westen“ erklärt: Eine
vielfach (zuletzt von den deutschen Ausrottern der Juden und von den sowjetischen
Mördern der polnischen und ukrainischen Intelligenz) maltraitierte, große
europäische Stadt wandte ihr Gesicht Europa zu.
Elf Jahre nach dem Rausch der Utopie erhebt sich eine kühle Sonne über
den zermürbenden Mühen der marginalisierten Masse der Lemberger, am
Rande der Armut und mitten in der Armutei ein menschenwürdiges Dasein
zu fristen. Da rumpeln die von handfesten Frauen gelenkten Sauriere der
Straßenbahn durch den Dieseldunst der altösterreichischen Boulevards,
vorbei an den rustikalen Straßenmärkten, den Schaustrecken der Kärglichkeit,
auf denen man sich jeder Anmutung von Kopftuch-Folklore schämt, weil
hier müde Gesichter und Kraut und Rüben nur von Existenzkampf und Subsistenzwirtschaft
erzählen. Drüben in den überdachten Gassen und den Verkaufscontainern
eines hingewürfelten Einkaufszentrums spielen die Waren Marktwirtschaft.
Fast alles ist erhältlich, aber die Kaufkraft siecht, sickert in die
Zweite Hand, während die Zahl der Kaufkräftigeren schwindet. Undurchschaubar
unter dieser Sonne: Das Gewurstel der Schattenwirtschaft, die russisch
aufgehängten Profit-Netzwerke der aus der Nomenklatura in die Manager-Limousinen
gesprungenen Clans, die Betäubung und Lähmung aller zum Aufwachsen einer
demokratischen Kultur und aufgeklärten Zivilgesellschaft nötigen Energien
– Resignation statt Aufschwung?
Versucht man das schwer Fassliche nicht emotional als Desaster auszumalen,
sondern in Zahlen und Messgrößen zu greifen, muss man unter der offiziellen
Oberfläche fischen. Man findet hier eine Arbeitslosenquote von 40%, ein
monatliches Durchschnittseinkommen eines Arbeitnehmers von 200.-bis -300.-
DM, desaströse Renten und Zahlungsrückstände bei Löhnen und Gehältern.
1999 betrugen die Pro-Kopf-Investitionen in der Region L´viv etwa 0,5%
der Investitionsrate in Ungarn, selbst die rumänische Rate ist dreimal
höher – eine alte europäische Kultur-und Wirtschaftsregion ist gnadenlos
marginalisiert. Dazu kommt eine degradierende Rückwärtsentwicklung:
In der Landwirtschaft sind über 22% der Menschen dieser Region beschäftigt
– also so viele, wie in Westeuropa vor 50 Jahren – fahr übers Land,
so wirst du sie hacken und ihre Kühe hüten sehn.
Anna Veronika Wendland, eine kluge deutsche Beobachterin, die hier wissenschaftlich
arbeitet und den Exodus der Tüchtigen, wie z.B. der technisch-industriellen
Intelligenz registiert, sagt den beklemmenden Satz: „So mies und kleinlich
es jetzt ist, es ist besser als es war, und wohl auch besser, als es kommt.“
Und der Philosoph Myroslaw Popowytsch aus Kiew weist auch auf die moralischen
Folgekosten der gesellschaftlichen und ökonomischen Krise hin:„ Hier
gehen fundamentale Werte und ethische Begriffe verloren, dazu die Fähigkeit,
über diese Verluste Schmerz zu empfinden. Wenn nun die Geschichte auch
noch einen Grenzvorhang vor uns aufhängt, wird die Situation noch finsterer...“
Unter der Last solch verzweifelter Sätze gehst du im beschönigenden
Mittagslicht zwischen den Lemberger Menschen umher und findest neben den
Anzeichen der Entmutigung in der flutenden Geschäftigkeit der Passanten
auch Haltungen und Gesten einer trotzigen Zuversicht und Lebensfreude,
Anmut und Würde eines Selbstbewusstseins, das nicht auf die Signale teurer
Klamotten angewiesen ist.
Doch den Lembergern kommt nicht das tägliche Brot, und nicht einmal
das tägliche Wasser sicher ins Haus. Mitte Mai passierte dies in dieser
Stadt: Ohne Vorankündigung schaltete die von dem Oligarchen Surkis dominierte
Elektrizitätsgesellschaft den Menschen in L’viv für 24-48 Stunden
die Wasserpumpen ab, um die klamme Stadtverwaltung brachial zur Zahlung
von Gebührenrückständen (vielleicht auch zur ersatzweisen Herausgabe
netter Filetgrundstücke) zu zwingen. Nun erhebt das Rathaus Klage –
aber wie unabhängig ist ein Staatsanwalt in einem Land, in dem ein Surkis
Regierungen stürzt, die ihm reformerisch zu nahe treten? So genügen
48 Stunden, um die zynisch-rabiate Dominanz oligarchischer Interessen
über das Gemeinwohl als Rückfall in die Barbarei zu besichtigen.
LICHTBLICKE - NETZWERKE
Die schonungsloseste Analyse der ukrainischen Krise hat zum internationalen
Lwiwer „Gespräch über Grenzen“ der Publizist und Leiter des Amtes
für Internationale Beziehungen im Lwiwer Rathaus, Taras Wozniak vorgelegt.
In dem viersprachigen, von Sofia Onufrif (L’wiw) und Walter Mossmann
(Freiburg) gestalteten Sonderheft der unabhängigen und mutig aufklärerischen
Zeitschrift „Ji“ benennt Wozniak die destruktiven Strukturen der oligarchischen
Regierungsform, die massenhafte Aneignung von „Volkseigentum“ durch
20 Oligarchenclans, die mit einer Kriminalisierung fast aller Lebensbereiche,
mit Massenverarmung, Russifizierung und Gängelung der Medien einhergehe.
Der perspektivelose Staatskapitalismus der „Stagnarchen“ beraube die
ukrainische Wirtschaft jeder Reformperspektive. Folglich lasse sich diese
im Kiewer Autoritarismus zentrierte, dem postsowjetischen Osten zugewandte
Ukraine nicht ins europäische Haus integrieren.
Frustrierter Abschied von Europa? Nein, die Stimme dieser von der Heinrich-Böll-Stiftung
gestützten europäischen Zeitschrift aus L’wiw setzt Zivilcourage und
Gedankenschärfe gegen die zunehmende Betäubung des demokratischen und
kulturellen Selbstbewusstsein der jungen Ukraine. Sie setzt auf solidarische
Netzwerke, die von unermüdlichen Grenzgängern geflochten sind. Und sie
kämpfte in der Konferenz um Verbündete gegen den schonungslosen Realismus
des Europaparlamentariers Daniel Cohn-Bendit, der 40-50 Jahre ansetzt,
bis die Ukraine reif sei für einen EU-Beitritt. Gernot Erler, der sachkundige
und passionierte Sachwalter der substantiellen Städtepartnerschaft Freiburg-L’wiw,
eröffnete in L‘wiw mit dem Gewicht seiner Bundestagsfunktion eine konstruktivere
Perspektive: Westeuropas Politik habe sich durch Abkommen seit 1998 verpflichtet,
der Ukraine aus der Falle herauszuhelfen, ihr durch einen Sonderstatus
und eine Freihandelszone entgegenzukommen. Dabei sollten die „speziellen
Partnerschaften“, die sich zwischen den deutsch-französischen und den
ukrainisch-polnischen Grenzregionen gebildet haben, „in das Bewusstsein
ganz Europas gelangen“.
Europas Bewusstsein: Hat es nicht gerade erst begonnen, dem Klingeln
des schwächelnden Euro und dem Dröhnen der Brüsseler Milliardenzentrifuge
noch ein paar leise und dringende Verfassungsfragen hinzuzufügen? Und
könnte die EU, bevor sie neue Beitrittsländer schäbig als zweitklassig
einstuft, soviel erstklassige Europa-Demokratie wagen, dass sie sich wenigstens
selbst beitreten könnte? Dann hätte in diesem Bewusstsein sogar auch
noch das historische Pflichtgefühl gegenüber den Europäern jenseits
der EU einen Platz.
Übrigens: Die Konferenz, die solchen Fragen nachging, überschritt am
23. Mai 2001 die ukrainisch-polnische Grenze, unterzog sich einer zweieinhalbstündigen,
poststalinistischen Kontrollprozedur inclusive absurder Pflichtwaschung
der Hände. War dann Zeuge einer historischen polnisch-ukrainischen Begegnung
im Rathaus von Przemysl, um abends wieder für zweieinhalb lehrreiche
Stunden an der künftigen Ost-Grenze zu ahnen, was dort kommen wird: An
dieser heute schon unzivilen Grenze wird Europa sich selbst beschädigen.
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