Natalia Ligachova
Euroskeptiker und Eurozyniker: wer hat recht ?
(Aus der ukrainischen Tageszeitung “DEN” - national - vom 29.05.200)
Teilnehmer der internationalen Konferenz “Was folgt auf die Osterweiterung
der Europäischen Union? Der Fall Polen/Ukraine” waren prominente Politiker,
Wissenschaftler und Journalisten aus der Ukraine, Polen, Deutschland,
Belgien und Frankreich. Die Konferenz in Lviv wurde von der Heinrich-Böll-Stiftung
(Deutschland) und der NGO “Unabhängige Kulturzeitschrift ï ”
organisiert. Das zentrale Thema der Konferenz – die Zukunft der Ukraine
nach der Osterweiterung der EU und dem Anschluss Polens an den Schengener
Raum und die dementsprechenden Veränderungen des derzeit noch visafreien
Grenzregime – konnten die Teilnhemer nicht nur theoretisch diskutieren.
Sie hatten auch die Gelegenheit, während eines Ausfluges nach Przemysl
die Grenzinfrastruktur an zwei Grenzübergängen (Schegyni und Krakovetc)
selbst kennenzulernen. In Przemysl wurde dann die Diskussion fortgesetzt,
im Gespräch mit Repräsentanten der ukrainischen Minderheit, mit Vertretern
des Stadtrates, der Stadtverwaltung und der politischen Parteien. Leider
nahmen manche europäische Politiker die vierstündige Wartezeit an der
Grenze (und dies bei absoluter Begünstigung!) als Beweis dafür, dass
nicht immer die kostenlose und visafreie Variante die optimale sei.
Bei den mehrstündigen Diskussionen kamen recht gegensätzliche Meinungen
zu Wort. (…)
Der Abgeordnete des Europäischen Parlaments Daniel Cohn-Bendit sieht
die Ukraine in den nächsten 40-50 Jahren noch nicht einmal unter den
assoziierten EU-Mitgliedern und weist ihr die Rolle einer Pufferzone zwischen
der EU und Russland zu. Der ukrainische Ex-Aussenminister Borys Tarasiuk
hingegen wirft der EU eine gewisse Exklusivität vor und betont, dass
in Europa geographisch gesehen nicht nur 15, sondern 47 Staaten existieren.
Er findet es merkwürdig, dass man von der europäischen Perspektive einiger
Balkan-Staaten spricht, und gleichzeitig die Ukraine vollständig ignoriert.
(…)
Wie kritisch man auch die Stellungnahmen vieler europäischer Politiker
bewerten mag, so liegt doch eine besondere Verantwortung für die europäische
Perspektive bei der Gesellschaft und den Eliten der Ukraine selbst. Der
Organisator der Konferenz, der Leiter der NGO “ Kulturzeitschrift ï
”, Taras Wozniak sagte, die Gesellschaft müsse nun endlich lernen,
auf die Ereignisse im Lande aktiv zu reagieren. Man dürfe nicht weiter
wegsehen und so tun, als ob man keinen Schmerz empfinde, in der Hoffnung,
dass sich alles von selbst lösen werde. Man müsse vielmehr Verantwortung
übernehmen und einen Staat aufbauen, in dem sich die Mehrheit und nicht
nur ein kleiner Teil der Bevölkerung zuhause fühlen könne.
Hier die Kommentare einiger Konferenzteilnehmer.
Elena Prochorovha (BBC, Brüssel)
Nach dem Amsterdamer Vertrag entwickelt sich die EU immer mehr zu einem
politischen Konstrukt, es entsand die GASP, die als eine Alternative zur
NATO fungieren solle. Was die Ukraine betrifft, so hat man sich von dem
Bzezinski-Konzept entfernt. Nach dessen Konzept ist die Ukraine für den
Westen sehr wichtig, um Einfluss auf Russland nehmen zu können. Allerdings
rechneten damals alle damit, dass sich die Ukraine wirtschaflich und demokratisch
entwickeln würde. (…)
Mir scheint, infolge der Osterweiterung wird die Europäische Union mit
ihrer politischen und wirtschaftlichen Kultur und mit ihren Werten immer
grössere Territorien erobern und diese auf den Zusammenschluss vorbereiten,
das bezieht sich natürlich dann auch auf die Ulkraine, auf Moldawien
und möglicherweise sogar auf Russland.
Der doppelte Maßstab für die Ukraine ist natürlich damit verbunden,
dass - strategisch gesehen - Russland für die EU interessanter ist. Genauer
gesagt: nicht interessant, sondern beunruhigend. Man schaut immer: was
sagt denn Russland dazu? (…) Die EU muss ihre Position definieren, gerade
im Hinblick auf die geographische Nähe zu Russland. Und ich denke, dass
die Logik des Dreiecks Russland – EU – Ukraine für die EU folgendermassen
aussieht: EU/Russland… und Ukraine. Ich denke, die EU wird versuchen,
ihre Beziehungen zu Russland auszubauen und die Ukraine in diese Partnerschaft
einzubeziehen. Diese neue Situation einer vertieften Partnerschaft ist
sehr interessant für Russland und auch für die Ukraine. Die veränderte
Situation ist gewissermassen durch die Persönlichkeit des russischen
Präsidenten Wladimir Putin bedingt. Ich glaube, für die EU wäre es
bequemer und natürlicher, ihre Beziehungen zu Russland und zur Ukraine
als einen Komplex zu betrachten. Früher existierten zwei Modelle: entweder
bewegen sich die Ukraine und Moldawien in Richtung Russland oder in Richtung
Europa. Heute gibt es eine neue Tendenz, die Idee von Grenzmodellen, da
das System “entweder-oder” gescheitert ist. Darüber wurde auch bei
dieser Konferenz diskutiert. Es ist klar, dass die Ukraine nicht in die
Arme Russlands fällt – sie hat ihre Unabhängigkeit, und die muss sie
verteidigen. Andererseits scheint der Beitritt der Ukraine in die EU sehr
unrealistisch. Die Hoffnungen auf eine schnelle Transformation haben sich
nicht erfüllt, weniger auf der ökonomischen Ebene, vielmehr im Hinblick
auf die politische Kultur einer Zivilgesellschaft. Aber gerade diese Zivilgesellschaft
könnte ein Garant dafür sein, dass die Existenz der Marktwirtschaft
und der fundamentalen demokratischen Werte nicht mehr durch einen Regierungswechsel
gefährdet würden. (…) Um ein derartiges System zu schaffen, braucht
man allerdings Jahrzehnte oder noch mehr.
Heute verbreitet sich in Europa die Idee der Euroregionen als eines postmodernen
postnationalen Gebildes. (…) Die modernen Politikwissenschaftler sagen,
die Zukunft Europas liege in der Stärkung der Regionen und deren partnerschaftlichen
grenzüberschreitenden Beziehungen. Zur Zeit diskutiert man diese Frage
in bezug auf Kaliningrad. Das Problem liegt darin, Russland zu überzeugen,
dass eine gemeinsame Verwaltung für beide Akteure vom Nutzen sei. Ähnlich
könnte man vielleicht über die Westukraine nachdenken. Dass also nicht
der ganze Staat, sondern nur ein Teil zum assoziierten EU-Mitglied würde
und somit Subventionen von der EU bekommen könnte. Das sollte nicht als
Gefahr für den ukrainischen Einheitsstaat angesehen werden. Heute könnten
sowohl die Westukraine als auch Kiew daran interessiert sein.
Ina Schoeneberg (Europa-Referentin bei der Bundestagsfraktion
Bündnis 90/Grüne)
Wichtig ist, dass die Forderungen der EU an die Ukraine sich nicht von
den Forderungen an andere Länder unterscheiden dürfen. Das sind: Demokratisierung
des politischen Systems, Unterstützung der Pressefreiheit, Aufbau eines
nichtstaatlichen öffentlichen Sektor – das ist das Wichtigste. Man
soll sich weniger mit gegenseitigen Schuldzuweisungen befassen, sondern
mehr Energie in die gemeinsame Lösung der existierenden Probleme einbringen.
Das ist eine gemeinsame Aufgabe für Regierung, regionale Macht und den
nichtstaatlichen Sektor. Was die zur Zeit in Europa verbreitete Auffassung
betrifft, man solle nicht mehr mit der aktuellen Macht in der Ukraine,
sondern mit der Opposition zusammenarbeiten – so weiss ich nicht, welche
Rolle spielt eine ukrainische Opposition und wer sind ihre Vertreter…
Dr.Anna Weronika Wendland (Historikerin, Leipzig)
Leider herrscht in Europa in bezug auf die Ukraine eine vollständige
Konzeptlosigkeit. Selbst Daniel Cohn-Bendit hat in seinem Vortrag sehr
lange über die Gründungsprinzipien der EU gesprochen, für die Ukraine
hatte er nur einen einzigen Satz übrig: es gibt das Problem der polnisch-ukrainischen
Grenze, wir werden sie schliessen, nicht einfach so mechanisch, sondern
wir bringen eine gute technische Austattung, und der Grenzübergang wird
zivilisiert funktionieren.
Natürlich kann jetzt noch nicht von der EU-Mitgliedschaft die Rede sein.
Aber ich teile die Meinung, dass Europa mit der Ukraine zusammenarbeiten
soll, um den Ukrainern zu helfen, sich mit den Werten zu definieren, die
sie anstreben. Ich bin einverstanden mit Professor Myroslaw Popowytsch,
dass die Ukraine einen gesellschaftlichen Konsens erarbeiten soll, eine
eigene nationale Idee schaffen. Es geht nicht darum, dass alle ukrainisch
sprechen sollen, es geht darum zu begreifen, was ein Rechtsstaat und was
Bürgerrechte sind. Das wäre eine Idee, die die ukrainisch- und russischsprachige
Ukrainer aus dem Osten und Westen der Ukraine vereinigen könnte.
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