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Was folgt auf die Osterweiterung der Europaeischen Union?
Der Fall Polen/Ukraine

22.-25. Mai 2001 Lwiw-Przemysl


Natalia Ligachova

Euroskeptiker und Eurozyniker: wer hat recht ?

(Aus der ukrainischen Tageszeitung “DEN” - national - vom 29.05.200)

Teilnehmer der internationalen Konferenz “Was folgt auf die Osterweiterung der Europäischen Union? Der Fall Polen/Ukraine” waren prominente Politiker, Wissenschaftler und Journalisten aus der Ukraine, Polen, Deutschland, Belgien und Frankreich. Die Konferenz in Lviv wurde von der Heinrich-Böll-Stiftung (Deutschland) und der NGO “Unabhängige Kulturzeitschrift ï ” organisiert. Das zentrale Thema der Konferenz – die Zukunft der Ukraine nach der Osterweiterung der EU und dem Anschluss Polens an den Schengener Raum und die dementsprechenden Veränderungen des derzeit noch visafreien Grenzregime – konnten die Teilnhemer nicht nur theoretisch diskutieren. Sie hatten auch die Gelegenheit, während eines Ausfluges nach Przemysl die Grenzinfrastruktur an zwei Grenzübergängen (Schegyni und Krakovetc) selbst kennenzulernen. In Przemysl wurde dann die Diskussion fortgesetzt, im Gespräch mit Repräsentanten der ukrainischen Minderheit, mit Vertretern des Stadtrates, der Stadtverwaltung und der politischen Parteien. Leider nahmen manche europäische Politiker die vierstündige Wartezeit an der Grenze (und dies bei absoluter Begünstigung!) als Beweis dafür, dass nicht immer die kostenlose und visafreie Variante die optimale sei.

Bei den mehrstündigen Diskussionen kamen recht gegensätzliche Meinungen zu Wort. (…)

Der Abgeordnete des Europäischen Parlaments Daniel Cohn-Bendit sieht die Ukraine in den nächsten 40-50 Jahren noch nicht einmal unter den assoziierten EU-Mitgliedern und weist ihr die Rolle einer Pufferzone zwischen der EU und Russland zu. Der ukrainische Ex-Aussenminister Borys Tarasiuk hingegen wirft der EU eine gewisse Exklusivität vor und betont, dass in Europa geographisch gesehen nicht nur 15, sondern 47 Staaten existieren. Er findet es merkwürdig, dass man von der europäischen Perspektive einiger Balkan-Staaten spricht, und gleichzeitig die Ukraine vollständig ignoriert. (…)

Wie kritisch man auch die Stellungnahmen vieler europäischer Politiker bewerten mag, so liegt doch eine besondere Verantwortung für die europäische Perspektive bei der Gesellschaft und den Eliten der Ukraine selbst. Der Organisator der Konferenz, der Leiter der NGO “ Kulturzeitschrift ï ”, Taras Wozniak sagte, die Gesellschaft müsse nun endlich lernen, auf die Ereignisse im Lande aktiv zu reagieren. Man dürfe nicht weiter wegsehen und so tun, als ob man keinen Schmerz empfinde, in der Hoffnung, dass sich alles von selbst lösen werde. Man müsse vielmehr Verantwortung übernehmen und einen Staat aufbauen, in dem sich die Mehrheit und nicht nur ein kleiner Teil der Bevölkerung zuhause fühlen könne.

Hier die Kommentare einiger Konferenzteilnehmer.

Elena Prochorovha (BBC, Brüssel)

Nach dem Amsterdamer Vertrag entwickelt sich die EU immer mehr zu einem politischen Konstrukt, es entsand die GASP, die als eine Alternative zur NATO fungieren solle. Was die Ukraine betrifft, so hat man sich von dem Bzezinski-Konzept entfernt. Nach dessen Konzept ist die Ukraine für den Westen sehr wichtig, um Einfluss auf Russland nehmen zu können. Allerdings rechneten damals alle damit, dass sich die Ukraine wirtschaflich und demokratisch entwickeln würde. (…)

Mir scheint, infolge der Osterweiterung wird die Europäische Union mit ihrer politischen und wirtschaftlichen Kultur und mit ihren Werten immer grössere Territorien erobern und diese auf den Zusammenschluss vorbereiten, das bezieht sich natürlich dann auch auf die Ulkraine, auf Moldawien und möglicherweise sogar auf Russland.

Der doppelte Maßstab für die Ukraine ist natürlich damit verbunden, dass - strategisch gesehen - Russland für die EU interessanter ist. Genauer gesagt: nicht interessant, sondern beunruhigend. Man schaut immer: was sagt denn Russland dazu? (…) Die EU muss ihre Position definieren, gerade im Hinblick auf die geographische Nähe zu Russland. Und ich denke, dass die Logik des Dreiecks Russland – EU – Ukraine für die EU folgendermassen aussieht: EU/Russland… und Ukraine. Ich denke, die EU wird versuchen, ihre Beziehungen zu Russland auszubauen und die Ukraine in diese Partnerschaft einzubeziehen. Diese neue Situation einer vertieften Partnerschaft ist sehr interessant für Russland und auch für die Ukraine. Die veränderte Situation ist gewissermassen durch die Persönlichkeit des russischen Präsidenten Wladimir Putin bedingt. Ich glaube, für die EU wäre es bequemer und natürlicher, ihre Beziehungen zu Russland und zur Ukraine als einen Komplex zu betrachten. Früher existierten zwei Modelle: entweder bewegen sich die Ukraine und Moldawien in Richtung Russland oder in Richtung Europa. Heute gibt es eine neue Tendenz, die Idee von Grenzmodellen, da das System “entweder-oder” gescheitert ist. Darüber wurde auch bei dieser Konferenz diskutiert. Es ist klar, dass die Ukraine nicht in die Arme Russlands fällt – sie hat ihre Unabhängigkeit, und die muss sie verteidigen. Andererseits scheint der Beitritt der Ukraine in die EU sehr unrealistisch. Die Hoffnungen auf eine schnelle Transformation haben sich nicht erfüllt, weniger auf der ökonomischen Ebene, vielmehr im Hinblick auf die politische Kultur einer Zivilgesellschaft. Aber gerade diese Zivilgesellschaft könnte ein Garant dafür sein, dass die Existenz der Marktwirtschaft und der fundamentalen demokratischen Werte nicht mehr durch einen Regierungswechsel gefährdet würden. (…) Um ein derartiges System zu schaffen, braucht man allerdings Jahrzehnte oder noch mehr.

Heute verbreitet sich in Europa die Idee der Euroregionen als eines postmodernen postnationalen Gebildes. (…) Die modernen Politikwissenschaftler sagen, die Zukunft Europas liege in der Stärkung der Regionen und deren partnerschaftlichen grenzüberschreitenden Beziehungen. Zur Zeit diskutiert man diese Frage in bezug auf Kaliningrad. Das Problem liegt darin, Russland zu überzeugen, dass eine gemeinsame Verwaltung für beide Akteure vom Nutzen sei. Ähnlich könnte man vielleicht über die Westukraine nachdenken. Dass also nicht der ganze Staat, sondern nur ein Teil zum assoziierten EU-Mitglied würde und somit Subventionen von der EU bekommen könnte. Das sollte nicht als Gefahr für den ukrainischen Einheitsstaat angesehen werden. Heute könnten sowohl die Westukraine als auch Kiew daran interessiert sein.

Ina Schoeneberg (Europa-Referentin bei der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Grüne)

Wichtig ist, dass die Forderungen der EU an die Ukraine sich nicht von den Forderungen an andere Länder unterscheiden dürfen. Das sind: Demokratisierung des politischen Systems, Unterstützung der Pressefreiheit, Aufbau eines nichtstaatlichen öffentlichen Sektor – das ist das Wichtigste. Man soll sich weniger mit gegenseitigen Schuldzuweisungen befassen, sondern mehr Energie in die gemeinsame Lösung der existierenden Probleme einbringen. Das ist eine gemeinsame Aufgabe für Regierung, regionale Macht und den nichtstaatlichen Sektor. Was die zur Zeit in Europa verbreitete Auffassung betrifft, man solle nicht mehr mit der aktuellen Macht in der Ukraine, sondern mit der Opposition zusammenarbeiten – so weiss ich nicht, welche Rolle spielt eine ukrainische Opposition und wer sind ihre Vertreter…

Dr.Anna Weronika Wendland (Historikerin, Leipzig)

Leider herrscht in Europa in bezug auf die Ukraine eine vollständige Konzeptlosigkeit. Selbst Daniel Cohn-Bendit hat in seinem Vortrag sehr lange über die Gründungsprinzipien der EU gesprochen, für die Ukraine hatte er nur einen einzigen Satz übrig: es gibt das Problem der polnisch-ukrainischen Grenze, wir werden sie schliessen, nicht einfach so mechanisch, sondern wir bringen eine gute technische Austattung, und der Grenzübergang wird zivilisiert funktionieren.

Natürlich kann jetzt noch nicht von der EU-Mitgliedschaft die Rede sein. Aber ich teile die Meinung, dass Europa mit der Ukraine zusammenarbeiten soll, um den Ukrainern zu helfen, sich mit den Werten zu definieren, die sie anstreben. Ich bin einverstanden mit Professor Myroslaw Popowytsch, dass die Ukraine einen gesellschaftlichen Konsens erarbeiten soll, eine eigene nationale Idee schaffen. Es geht nicht darum, dass alle ukrainisch sprechen sollen, es geht darum zu begreifen, was ein Rechtsstaat und was Bürgerrechte sind. Das wäre eine Idee, die die ukrainisch- und russischsprachige Ukrainer aus dem Osten und Westen der Ukraine vereinigen könnte.