Lubko Petrenko
Die europäischen Träume der Ukraine - Notizen von der internationalen
Konferenz
Aus der lwiwer (regionalen) Tageszeitung POSTUP vom 31. Mai 2001
Der Alptraum eines neuen “Eisernen Vorhangs” wird für die Ukraine
immer deutlicher. Wir stehen schon wieder vor der Aussicht, von der zivilisierten
Welt abgeschnitten zu sein – während gleichzeitig einige Kilometer
weiter westlich sich der europäische Integrationsprozess rasch entfaltet.
Wie kann man dieses Unglück verhindern? Mit der Antwort auf diese Frage
haben sich die Teilnehmer der internationalen Konferenz “Was folgt auf
die Osterweiterung der Europäischen Union? Der Fall Ukraine/Polen”
beschäftigt. Die Konferenz wurde von der Heinrich-Böll-Stiftung (Berlin)
und der NGO “Unabhängige Kulturzeitschrift ï” organisiert.
An der Konferenz, die vom 22.-25.05 in Lemberg und Przemysl stattfand,
nahmen Experten und Journalisten aus Deutschland, Frankreich, Polen und
aus der Ukraine teil.
Die Osterweiterung der EU ist eine grosse Herausforderung nicht nur für
die EU-Mitglieder und Beitrittskandidaten, sondern auch für die künftigen
direkten Nachbarn der EU, d.h für die Länder (Outsider), deren Eintritt
in die EU für eine unbestimmte Zeit aufgeschoben ist. Um die Bewegungsfreiheit
innerhalb des Schengener Raumes zu sichern, muss die EU die Grenzkontrolle
an der künftigen Aussengrenze verschärfen und die Visumspflicht einführen,
auch dort, wo Visa vorher abgeschafft worden waren. Diese Tatsache hat
man bei der Eröffnung der Konferenz zum Ausdruck gebracht.
Ich will auch gleich feststellen, ohne die Leser lange in Spannung zu
halten, dass es den Konferenzteilnehmern nicht gelungen ist, eine realistische
und konstruktive Formel für die Beziehungen EU-Ukraine zu finden. Der
Osteuropareferent der Heinrich-Böll-Stiftung Walter Kaufmann schlug vor,
die deutsch-französische Grenzerfahrung zu übernehmen. Die Erfahrung
könnte durchaus wertvoll sein, wenn sie sich auf die ukrainisch-polnische
Grenze übertragen liesse. Wirkliche Analogien gibt es aber nur im Bereich
der Geschichte: die uralten Konflikte zwischen Deutschen und Franzosen
erinnern an die polnisch-ukrainische Vergangenheit. Aber wenn man die
Entwicklungsbedingungen, die Ziele und das politisch-wirtschaftliche Potenzial
vergleicht, kommt man zum Schluss, dass diese Erfahrung nur in der Publizistik
verbalisiert werden könnte.
Selbst die Rede des prominentesten Konferenzteilnehmers, des Führers
der Pariser Mairevolution von 1968, Daniel Cohn-Bendit, klang für die
ukrainische Seite nicht besonders optimistisch. “Die Ukraine wird noch
40-50 Jahre brauchen bis sie in Europa ist” – damit brachte er die
ukrainischen Adepten des proeuropäischen Vektors in Verlegenheit. “Nein,
das kann nicht sein, die Ukraine ist schon heute in Europa” - entgegnete
der ehemalige Aussenminister der Ukraine Borys Tarasyuk, der anscheinend
vergessen hatte, dass seine ausgeprägt westliche Orientierung der Grund
für seinen Demission war. Zuerst berief er sich auf die Landkarte des
Kontinents und versuchte dann statistische Angaben zu präsentieren, nach
denen angeblich 80% der ukrainischen Bevölkerung für einen EU-Beitritt
plädieren. Unverständlich bleibt dann allerdings, warum die Kommunisten
und die nicht unbedingt progressiven Sozialisten sowie die Kolchosvorsitzenden
immer wieder Unterstützung finden bei den Wahlen? Mykola Knjazyzkyj,
Mitglied des ukrainischen Fernseh- und Radio-Nationalrates, versuchte
dann einen Kompromiss zu finden: “O.k., wir sind noch nicht in Europa.
Aber bitte, sagen Sie das nicht zu laut, der zarte westliche Vektor der
Ukraine ist in diesem Punkt sehr empfindlich”.
Nun gut, dann tun wir so, als ob alles in Ordnung sei. Aber was haben
die westlichen Politiker damit zu tun? Die einen sind sehr taktvoll in
ihren Äusserungen, die anderen sind ehrlich (wie Cohn-Bendit). Aber allen
drängen sich dieselben Fragen auf: “Liebe Ukrainer, was reden Sie für
Unsinn, wie kann man all das, was Sie Vaterland nennen, nach Europa hineinstopfen,
wenn obendrein doch die meisten es gar nicht wollen!” Und es fällt
schwer, Gegenargumente zu finden. Schliesslich hatten die Konferenzteilnehmer
die Möglichkeit, während der Konferenz über die polnisch-ukrainische
Grenze zu fahren. Dort verbrachten sie über zwei Stunden und konnten
sich selber überzeugen, wie streng schon die heutige Prozedur der Zoll-
und Passkontrolle ist, und konnten sich also auch leicht vorstellen, wie
sich nach dem Beitritt Polens zur EU die Situation verschärfen wird.
Gewiss, man kann unter den gegenwärtigen Verhältnissen eine konstruktive
Zusammenarbeit zwischen der EU und der Ukraine entwickeln. So haben z.B.
einige lwiwer Journalisten das Konzept “Europa der Regionen” auf den
Tisch gebracht. Auch in der Ukraine sind die Gebiete sehr unterschiedlich,
auch was ihre West-Orientierung betrifft. Könnte also der Westen, der
sich den Kopf zerbricht, was nun mit der Ukraine zu machen sei, nicht
gerade diesen Aspekt ins Auge fassen? Das würde bedeuten, dass man unterschiedlich
mit unterschiedlichen Regionen umgeht. In diesem Sinne sollte in erster
Linie die Beziehungen zwischen der EU und Galizien entwickelt werden,
da die europäischen Tendenzen hier zweifellos deutlich zu erkennen sind.
Diese These über die ukrainischen Regionen stiess am ersten Konferenztag
noch auf heftigen Widerstand der ukrainischen und westlichen Konferenzteilnehmer.
Aber am letzten Tag wurde diese Frage durchaus als Grundlage für eine
konstruktive Diskussion benutzt. Diesen Fortschritt extrapolierend kann
man feststellen, dass in Kürze die regionale These zu einer Basis der
realen Zusammenarbeit werden wird.
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