Stanislaw Stepien
Direktor des Süd-Ost-Europa-Instituts in Przemysl
“Man braucht Liebe zum Menschen, nicht nur zur Ukraine”
Aus der ukrainischen Tageszeitung “DEN” (national) vom 1.06.2001
“Das aktuelle Interview”
Herr Stanislav! Während der Konferenz “Was folgt auf die
Osterweiterung der EU? Der Fall Polen/Ukraine” hat Dr. Zdislav
Najder (der Berater des polnischen Premierministers) den Gedanken zum
Ausdruck gebracht, dass der Weg der Ukraine nach Europa über Polen gehe,
über das polnische Interesse an uns, über Zusammenarbeit und Hilfe.
Was meinen Sie dazu?
Ganz offensichtlich ist die polnische Erfahrung für die Ukraine sehr
interessant. Beide Staaten kannten das sowjetische Regime, wenn auch unter
unterschiedlichen Bedingungen. Die Mentalität von Ukrainern und Polen
ist ähnlich. D.h. man sollte die polnische Erfahrung nutzen. Obwohl ich
denke, dass die Ukrainer auch Erfahrungen anderer Staaten – Ungarn,
Deutschland, Tschechien – akkumulieren sollten. (…) In der Ukraine
existieren Probleme, die es in Polen nicht gibt – z.B. das Problem der
Kolchosen. In politischer Hinsicht ist für die Ukrainer aber auch der
Dialog zwischen Polen und Deutschland von Bedeutung. In den polnisch-deutschen
Beziehungen gab es sehr viel mehr Vorurteile und Konflikte, als in den
polnisch-ukrainischen.
Was war die Basis für den schnellen Wachstum der polnischen Wirtschaft?
Und warum ist die Ukraine so weit zurückgeblieben? Woran hat es gelegen?
In Polen gab es Privateigentum an Grund und Boden, es gab die Einrichtung
der Pacht und es gab private Unternehmen. Die wichtigste Voraussetzung
aber ist etwas anderes: bei uns trägt jeder Verantwortung für die ganze
Gesellschaft. (…) Niemand hat solche destruktiven Ziele wie in der Ukraine.
Es ist beispielsweise ganz ausgeschlossen, dass ein polnischer Sejmabgeordneter
sich weigert, auf die Verfassung zu schwören, was in der Ukraine der
Fall war. (…) Die Ukraine muss noch sehr viel für die Schule, für
das gesamte Bildungssystem tun. Ein äusserst negativer Faktor ist das
sehr schlechte Niveau vom Fernsehen und Rundfunk. (…) Und ich finde
es auch nicht gut, dass in den ukrainischen Medien Kinderprogramme und
andere Programme auf Russisch laufen. Ich habe nichts gegen Russland,
aber ich bin gegen eine Politik, die keine ukrainische Identifizierung
zulässt. Aber das Wichtigste: ein ukrainischer Patriot braucht sich nicht
ständig unter die Fahne stellen, er sollte lieber viel arbeiten – zu
seinem eigenen Wohl und zum Wohl seiner Landsleute. Einen Staat kann man
nur mit harter Arbeit aufbauen, nicht mit politischer Rhetorik.
Das bedeutet – man braucht keine Verbote, keinen nationalen Schamanismus,
sondern man sollte eine starke Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur entwickeln?
Ja, man muss eine konkurrenzfähige ukrainische Gesellschaft schaffen.
Für die jungen Leute in der Ukraine gibt es zu viel patriotische Rhetorik.
Man braucht nicht nur die Liebe zur Ukraine, wichtiger ist die Liebe zum
Menschen. (…) Man sollte die patriotischen Werte, das Verantwortungsgefühl
für den eigenen Staat modernisieren. Es sollte uns nicht der Gedanke
vereinigen, dass uns etwas mangelt, dass uns etwas verweigert wird etc.
Nein, Realismus wird gebraucht. “Ukraina” sollte nicht nur Poesie
und schöne Berge bedeuten, sondern auch bessere Lebensbedingungen, gute
Strassen, gute Löhne. Das sollten die Kinder in der Schule lernen. Was
braucht man dazu? Progressive, substanzielle Gesetze. Wenn die Gesetze
nicht vollkommen sind, muss man sie ändern. Dazu gibt es das ukrainische
Parlament. Die Situation in der Ukraine ist aber dadurch erschwert, dass
es in der Verchowna Rada etliche politische Kräfte und Parteien gibt,
die schwer zu einem Konsens gelangen. (…) Die Ukrainer glauben nicht
an ihre eigenen Kräfte. Ich verstehe, dass man Geld braucht, um ukrainische
Philosophie oder Literatur zu exponieren. Aber für Denkmäler ist das
Geld da. Man sollte ganz anders vorgehen und der Welt zeigen, dass die
Ukraine nicht nur Schewtschenko und Chmelnyckyj bedeutet. (…)
Wie betrachten die Polen die derzeitige politische Situation in der
Ukraine? Was denkt man zum “Kasettenskandal” und anderen aktuellen
politischen Ereignissen?
Die Ukrainer müssen die Frage selbst beantworten, ob sie Kutschma als
Präsidenten wollen und solche Abgeordnete, wie sie sie derzeit haben.
Diese Frage lässt sich nicht in einem Tag beantworten, aber der Kasettenskandal
ist für die Ukraine eine Lehre vor den Wahlen. Wen soll man wählen?
Man muss diese Lehre begreifen und im Gedächtnis behalten. Aber alle
wirklichen Veränderungen in Staat und Gesellschaft brauchen Zeit.
Welche vor allem strukturelle Veränderungen müssen durchgeführt
werden, damit wir die Erbschaft der sowjetischen Nomenklatura überwinden
können?
Das grösste Problem liegt nicht nur darin, dass eine kleine Gruppe über
sehr viel Eigentum verfügt, sondern auch darin, dass diese Menschen vom
Staat abhängig sind. (…) Sie leben in den Tag hinein, und sie denken
nicht nach über irgendeine Perspektive. (…) Man müsste eine Alternative
zu diesen Oligarchen schaffen, man müsste also eine Mittelschicht bilden,
Unternehmer, die dann auch politischen Einfluss haben würden.
Sehen Sie in der Ukraine eine realistische Möglichkeit für die Enstehung
einer derartigen Alternative? Sie wäre dann ja auch für die Oligarchen
von Nutzen als ein konkurrenzförderndes Milieu?
Das ist ein sehr kompliziertes Problem. In einem normalen Staat würde
man entsprechende Gesetzte verabschieden, die das Kleinunternehmen fördern.
Aber in der Ukraine wird das Parlament von den Vertretern des Grosskapitals
kontrolliert, darunter sind auch einige angeblich “Oppositionelle”.
(…) Dazu kommt die geringe politische Kultur der ukrainischen Gesellschaft.
(…) Die Medien müssten eingreifen.
Heute spricht man in der Ukraine viel vom “öffentlich rechtlichen
Fernsehen”. Glauben Sie, dass so etwas möglich ist?
In der Ukraine etwas anzufangen ist immer schwierig. Natürlich werden
die Oligarchen und der Präsident versuchen, ein solches Projekt zu kontrollieren.
Aber man sollte es trotzdem probieren. Auch wenn es nicht gleich hundertprozentig
funktioniert, auch wenn es nur zwanzigprozentig geht, man soll sich einfach
an die Arbeit machen. (…)
Wie verstehen Sie die Rolle der europäischen Strukturen in bezug
auf den Demokratisierungsprozess der Ukraine? In wieweit ist ihre Politik
angemessen?
Ich denke, Europa betreibt eine sehr kurzsichtige Politik in bezug auf
die Ukraine. Europa und die USA möchten Politik machen auf der Linie
Brüssel–Moskau bzw. Washington–Moskau. Die Politiker haben wenig
Ahnung von der Bedeutung der Ukraine für die europäische Sicherheit.
Wenn die Ukraine wieder durch einen Eisernen Vorhang von Europa getrennt
wird, hat sie nur einen Ausgang: in Richtung Russland. Und Russland seinerseits
kann sich nur dann wieder zum Imperium entwickeln, wenn es die Ukraine
“nimmt”. Wenige Menschen in Europa verstehen das. Man sollte nicht
nur Geld für humanitäre Hilfe ausgeben, Europa sollte der Ukraine helfen,
seine Wirtschaft umzubauen, eine demokratische Verfassung und ein Rechtssystem
aufzubauen, allerdings vorsichtig, ohne die Ukrainer zu kränken. Die
Ukraine braucht Hilfe, sie braucht ein Konzept. Im Westen muss Verständnis
geweckt werden, dass man die Ukraine aus Europa nicht ausschliessen darf
nach dem Motto: hier ist Europa und dort drüben beginnt schon die Dritte
Welt. Andererseits muss die Ukraine ihrerseits auch ihre Präsenz in der
Welt vergrössern – so wie es die ukrainischen Botschaften in Paris
und Warschau schon tun. (…) Man muss grosse Anstrengungen unternehmen,
um der Welt die Ukraine zu zeigen. Europa muss lernen, dass es die Ukraine
gibt, und dass dieser Staat eine Garantie für die neue europäische Ordnung
bildet. Im anderen Fall, wie die Geschichte zeigt, wird Russland, das
seinen Einfluss auf die Ukraine, Weissrussland und Moldawien ausweitet,
eines Tages ganz Europa kontrollieren wollen. Und es würden sich wieder
zwei Blöcke bilden, wie es schon einmal war. Um dies aber zu vermeiden,
muss man in den Ländern zwischen Russland und der EU die Demokratie und
die Marktwirtschaft entwickeln.
Warum glauben Sie, dass es in Europa an diesem Verständis fehlt?
Es gibt einige Gründe. Russland hat sich in den letzten 50 Jahren in
Europa etabliert. Russland hat die europäischen Staaten davon überzeugt,
dass alles, was hinter dem Bug liegt, zu ihm gehört. Und jetzt fällt
es schwer, dieses Bild zu korrigieren. Z.B. weiss kaum jemand in Europa,
dass es die griechisch-katholische Kirche gibt. Sie denken, die Ukraine
sei eine orthodoxe Welt. Sie wissen nicht, dass es in der Ukraine verschiedene
orthodoxe Kirchen gibt – nicht nur die des Moskauer, sondern auch die
des Kiewer Patriarchat, ausserdem die römisch-katholische und andere
Kirchen. Um die Einstellung zur Ukraine zu ändern, braucht man auch eine
andere Informationspolitik und gute Arbeit der ukrainischen Diplomaten.
Oder nehmen Sie diese Frage: Wie kann die Ukraine einen westlichen Touristen
interessieren? Der Staat muss begreifen, wie wichtig der Tourismus ist,
nicht nur für das Geschäft, sondern auch für die Image-Verbesserung,
für das politische Profil. (…)
Weiter: Kennen sie irgendeine ukrainische Schule, die partnerschaftliche
Beziehungen zu einer polnischen Schule hätte? Wenigstens hier in der
Grenzregion? (…)
Zwischen Polen und Deutschland funktioniert ein starker Austausch im
Bereich von Information, Kultur und Wirtschaft. Zwischen Polen und der
Ukraine sehr viel schwächer. Selbstverständlich müssen wir auch daran
arbeiten. Unser Institut sucht beispielsweise neue Arbeitsweisen, um junge
Leute für die ukrainische Geschichte und Gegenwart zu interessieren.
Wir fördern polnische Studenten, die ihre Studien über die Ukraine schreiben.
Jeden Freitag findet bei uns ein round-table statt, dort diskutieren die
Schüler der oberen Klassen – Ukrainer und Polen – über die gemeinsame
Geschichte, über die Konflikte etc. Ich denke, dass die nächste Generation
der Ukrainer ein gleichberechtigtes Mitglied der EU sein wird, und die
Polen sollen dafür dann eine wichtige Rolle gespielt haben.
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