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Expressives Rokoko

Von dem stilprägenden Lemberger Bildhauer Johann Georg Pinsel tauchten 1999 und 2002 im bayerischen Kunsthandel erste Holzbozzetti auf.

Oksana Kozyr

Jan K. Ostrowski bezeichnete Johann Georg Pinsel als vielleicht letzten wahrhaft großen Künstler des europäischen Barock.1 Dessen eigenwillig-expressiver Stil wurde vorbildlich für eine ganze Schule Lemberger Skulptur. Diese entwickelte sich etwa 1750 bis in die 1780er Jahre in der Hauptstadt der West-Ukraine, Lemberg/L'viv, und ihrer Umgebung. Im 18. Jahrhundert gehörte das Gebiet zur Adelsrepublik Polen, nach der Ersten Polnischen Teilung 1772 wurde es unter dem Namen Galizien ein Teil des österreichischen Kaiserreichs.

Johann Georg Pinsel ist frühestens durch seine Heirat am 13. Mai 1751 in den Quellen als „altaris sculptor" faßbar.2 Zu dieser Zeit lebte der Künstler in der Stadt Buczacz (150 km südöstlich von Lemberg), dem Hauptsitz seines damaligen Auftraggebers Graf Mikolaj Po-tocki, eines kunstsinnigen Exzentrikers. Für ihn arbeitete der Bildhauer mit dem Architekten Bernhard Meretyn zusammen. So führte Pinsel 1750/51 die Steinskulpturen mit den mythologischen Themen und Allegorien für das Rathaus in Buczacz aus und schuf 1752/55 die Holzfiguren für die Pfarrkirche in Horodenka (ca. 200 km südöstlich von Lemberg). Daß zwischen beiden Künstlern eine enge Beziehung bestand, belegt die Tatsache, daß Pinsel Meretyn zum Taufpaten seines ersten Sohnes Bernhard wählte.

1761 wurde Johann Georg Pinsel für die Arbeiten in Monastyrys'ka (ca. 100 km östlich von Lemberg) bezahlt. Noch im selben Jahr oder spätestens Anfang 1762 muß er verstorben sein, da am 24. Okt. 1762 seine Witwe erneut heiratete.3 Geburtsdatum, Herkunft und Ausbildung Pinsels sind unbekannt. Sein Name wird erstmals 1923 erwähnt4, und seit den 1930er Jahren wurde er als Künstler wahrgenommen: So widmeten sich damals Adam Bochnak, Tadeusz Man'kowski, Zbigniew Hornung im Kontext der Lemberger Rokokoskulptur auch dem Werk Pinsels. Die heutige Forschung wird durch die erheblichen Verluste an Kunstdenkmälern und Archivalien erschwert, die Lemberger Region v. a. unter sowjetischer Herrschaft erlitt. Zudem waren die Skulpturenbestände vor der Dezimierung nicht inventarisiert. Die Figurenkomplexe von Johann Georg Pinsel und seiner Werkstatt in den Kirchen von Hodowica, Horodenka, Monastyrys'ka sind nur fragmentarisch erhalten und befinden sich nicht mehr am ursprünglichen Aufstellungsort. 1996 wurde für die geretteten Skulpturen in Lemberg ein eigenes Pinsel-Museum eingerichtet.

Obwohl Pinsels Schaffenszeit nur etwa zehn Jahre umfaßte, sind bis jetzt rund 150 v. a. sakrale Werke bekannt. Davon sind einige archivalisch belegt. Lediglich die Zahlungen für die Steinfiguren an der Fassade der St. Georg-Kathedrale in Lemberg (1759/61), für die Skulpturen in der dortigen Trinitarierkirche (1756/57) und für Altäre in der Pfarrkirche von Monastyrys'ka (1761) sind überliefert. Weitere Werke werden dem Künstler stilistisch zugeschrieben. Hierzu gehören Pinsels Statuen aus Stein am Rathaus in Buczacz, die Skulpturenausstattung der Kirche in Horodenka und die Einrichtung des Gotteshauses in Hodowica (10 km von Lemberg). Letztere (von 1757/58) gilt als eindrucksvollste H-gurenensemble des Meisters und führt seinen unverwechselbaren Stil am besten vor Augen.

1999 tauchten sechs Holzbozzetti Pinsels im bayerischen Kunsthandel auf, die den Entstehungsprozeß seiner Skulpturen veranschaulichen. Als glückliche Bereicherung dieser Entwurfsreihe kamen im Jahr 2002 zwei weitere Bozzetti-Figürchen auf der Münchener Kunst-Messe hinzu. Alle acht Raritäten konnten mit einer erheblichen Unterstützung von privater Seite für das Bayerische Nationalmuseum in München erworben werden.5

Sieben von ihnen konnten nach Werkzusammenhang und Stil Johann Georg Pinsel zugeschrieben werden. Vier Holzbozzetti gehören jeweils paarweise zusammen: die Hll. Joachim und Anna, König David und Abraham (?). Sie konnten mit Pinsels Seitenaltar-Figuren in der Kirche von Monastyrys'ka in Verbindung gebracht werden. Nach Größe und Ausführungsgrad dürfte es sich bei diesen Bozzetti um die Präsentationsmodelle für den Auftraggeber gehandelt haben, die angeblich in ein Altarmodell integriert waren. Mit Ausnahme der hl. Anna (heute im Pinsel-Museum) sind die Altarfiguren nur noch von alten Fotografien bekannt.

Zu dieser einheitlich gestalteten Serie gehört auch der etwas größere Bozzetto des hl. Hieronymus, für den bisher keine Ausführung bekannt ist. Gerade dieses Figürchen ist typisch für Johann Georg Pinsels Kunst. Die charakteristische Formensprache des Schnitzers findet hier ihren Ausdruck in der durch komplizierte Körperdrehungen dramatisch bewegten Figur. Die Oberfläche der nackten Körperpartien ist unruhig und muskelbetont gestaltet. Die dynamisch-expressive Gesamtwirkung des Bozzetto wird durch die scharf gebrochenen, manchmal kristallin wirkenden Draperiefalten gesteigert.

Der Hochaltar von Horodenka

Die beiden weiteren Bozzetti Pinsels für den hl. Joseph6 und den rechten Bekrönungsengel dienten als Entwürfe für die weißgefaßten überlebensgroßen Hochaltar-Figuren der Kirche in Horodenka. Diese stilistisch zugeschriebene Skulpturenausstattung zählt zu Pinsels prominentesten Werken. Einige Figuren von Horodenka (hl. Joachim, hl. Elisabeth, der linke Bekrönungsengel) können - leider schlecht erhalten und ohne Fassung - im Lemberger Museum besichtigt werden. Selbst die verloren geglaubte Statue des hl. Joseph konnte vor kurzem in einem Fragment wiederentdeckt werden.7 Das eindrucksvolle Kopffragment des knienden Engels stimmt künstlerisch mit dem neugefundenen Bozzetto überein. Beide Bozzetti sind weit ausformulierte Entwürfe für die Hochaltarfiguren in Horodenka, deren expressiver Ausdruck durch zusätzliche, bei den Bozzetti fehlende scharfkantige Faltenbahnen intensiviert wurde. Der achte Bozzetto zeigt einen auf einer Volute knienden Engel,8 zu dem man keine Ausführung kennt. Das Figürchen weist keine Merkmale der Handschrift Pinsels auf; es ist stilistisch aber dem Formenkanon der Lemberger Bildhauerschule verpflichtet und könnte ein Werk aus dem unmittelbaren Umkreis des Bildhauers sein.

Alle acht Bozzetti bekamen in jüngerer Zeit einen neuen weißen Anstrich. Die zuerst gefundenen sechs befinden sich in gutem Erhaltungszustand, zwei Engel weisen Ergänzungen auf. Dieselbe Provenienz und Art der Neufassung deuten daraufhin, daß die Engel und die ersten sechs Bozzetti ursprünglich zusammengehört haben und wohl alle aus dem Fundus der selben Bildhauerwerkstatt stammen.

Die Bozzetti brachten neue Erkenntnisse über die Werkstattpraxis der Lemberger Bildhauerschule und bestätigten die Annahme, daß dort im 18. Jahrhundert genauso wie in den europäischen Metropolen gearbeitet wurde. Außerdem zeigen die skizzenhaft geschnitzten Holzfigürchen die individuelle Formensprache des Künstlers vielleicht noch genauer als die ausgeführten Skulpturen und helfen dabei, die Entstehung seines besonderen Stils zu verfolgen. Pinsels Stil mit seiner ungemein suggestiven Ausdruckskraft revolutionierte Mitte des 18. Jahrhunderts die konventionelle Gestaltungsweise in der Region und fand viele Nachfolger: Etwa 40 von ihnen sind bekannt, die in den 1760/70er Jahren tätig waren. Sie übernahmen Pinsels Figurenlösungen und Formenrepertoire, wiederholten und variierten sie in mehreren Ausführungen.

Die Autorin arbeitet an einer Dissertation über Johann Georg Pinsel. Für Hinweise auf weitere Werke des Bildhauers in Privatbesitz wäre sie dankbar. Diskretion wird zugesichert.


Anmerkungen

1 Land of the Winged Horsemen: Art in Poland 1572-1764 (Kat. Wanderausstellung in den USA), Alexandria, Virginia, 1999, S. 365

2 Jan K. Ostrowski, Kosciol Parafialny P.W. Wniebowziecia najswietszej Panny Marii w Buczaczu (Die Pfarrkirche Maria Himmelfahrt in Buczacz), in: Materialy do dziejow sztuki sakralnej na ziemiach wschodnich dawnej Rzeczypospolitej, l. Koscioly i klasztory rzymsko-katolickie dawnego wojewodstwa ruskiego, Bd. 1, Krakau 1993, S. 27f. - Piotr Krasny und Jan K. Ostrowski, Wiadomos'ci biograficzne na Temat Jana Jerzego Pinsla (Biographische Nachrichten zu Johann Georg Pinsel), in: Biuletyn Historii Sztuki, 57, 1995, S. 341

3 Jan K. Ostrowski, Jan Jerzy Pinsel, zamiast biografii (Johann Georg Pinsel, statt einer Biographie), in: Sztuka kresow wschodnich, Bd. 2, Krakau 1996, S. 364

4 Wladyslaw Zyla, Kos'ciol i kljasztor Dominikanow we Lwowie (Kirche und Kloster der Dominikaner in Lemberg), Lemberg 1923, S. 72

5 Zum Fund 1999 siehe: Peter Volk und O. Kozyr im Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst, 3. f. Bd. 51, 2000, S. 181-198. Zum Fund 2002 siehe: O. Kozyr in der Kunstchronik, Juni 2003, S. 291-294.

6 Inv.-Nr. 2000/241, Laubholz, grau-weiße, übergangene Fassung, H.13,9 cm, Bayerisches Nationalmuseum, München

7 Volk, Kozyr 2000, S. 186. Die stark beschädigte Skulptur befindet sich heute im Depot des Zweigmuseums der Staatlichen Kunstsammlungen im Schloß Oles'ko. Bislang wurde sie als Figur des hl. Johannes aus der gleichen Kirche interpretiert.

8 Inv.-Nr. L 2003/1102. Laubholz, weiß gefaßt, H.15,2 cm, Bayerisches Nationalmuseum, München

Weltkunst. Heft 14/2004 Dezember