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Mykola Rjabtschuk,
lebt als Autor und Journalist in Kiew

Zerstörte Illusionen

Westliche Beobachter mögen es merkwürdig finden, dass die Ukrainer für ein Abkommen auf die Strasse gingen, das ihnen keine klaren Vorteile verschafft. Timothy Snyder hat das in seinem Blog in der «New York Review of Book» auf den Punkt gebracht: «Wäre irgendjemand in dieser Welt dazu bereit, für ein Handelsabkommen mit den Vereinigten Staaten einen Schlagstock auf seinem Kopf zu riskieren Nicht das Abkommen selbst hat die Demonstranten mobilisiert, sondern das, wofür es steht: die Hoffnung auf ein normales Leben in einem normalen Land.

 

Ein Land der enttäuschten Hoffnungen

Genau diese Hoffnung hat die Kiewer Regierung den Ukrainern im November geraubt. Die Menschen fühlen sich nicht nur um das Abkommen mit der Europäischen Union (EU) betrogen, nein, sie fühlen sich um die Bemühungen für die Entwicklung ihres Landes geprellt. Seit 22 Jahren ist die Ukraine eine Grauzone zwischen postsowjetischen Autokratien im Osten und demokratischeren Nachbarn im Westen. 22 Jahre lang hat es Hoffnungen und Enttäuschungen gegeben – von der nationalen Unabhängigkeit, die neunzig Prozent der Bürger guthiessen und die die raffgierige Elite kompromittierte, bis hin zur orangen Revolution 2004, deren Hauptakteuren es misslang, ihre Versprechen zu verwirklichen. Die Wahl von Wiktor Janukowitsch zum Präsidenten und die Entlassung der orangen Regierung verwandelten eine triste Lage in eine gänzlich trostlose. In kurzer Zeit riss der enge Kreis der Verbündeten des Präsidenten die Macht im Lande an sich.

 

Tatsächlich aber könnte es sich im Nachhinein als ein Segen erweisen, dass die ukrainische Regierung das Abkommen mit der EU vertagt hat. Und dass dieses Land mit dieser Elite und ihren Eigenschaften keinen Einlass «in Europa» gefunden hat. Leider aber, und das muss man sich bewusstmachen, befinden sich die Mitglieder dieser Elite «schon in Europa» – mit ihren Villen, ihrem gestohlenen Geld und den Diplomatenpässen, weshalb alle übrigen Ukrainer in ihren Augen kein visafreies Reiseregime brauchen. Die Mitglieder der Regierung profitieren von Recht und Ordnung und Eigentumsrechten im Westen. Zugleich untergraben sie systematisch den Aufbau genau dieser Errungenschaften im eigenen Land. Folglich ist nicht die ukrainische Herrschaftselite, welche ein Dolce Vita in «Euro-Sodom» – ein gängiges, von Putin entliehenes Schimpfwort für die Europäische Union – führt, «von Europa» abgeschnitten. Sondern es sind die 46 Millionen Ukrainer.

 

Für viele dieser Ukrainer war das Assoziierungsabkommen die letzte Hoffnung, den Aufbau ihres Landes friedlich zu gestalten. Sie erwarteten, dass ihre Regierungsmitglieder eines Tages Gesetze beachten würden, statt skrupellos zu klauen und zu lügen. Und sie hofften, die Rechtsstaatlichkeit würde im Lande mit der Hilfe der EU wiederhergestellt und die Verpflichtungen ihr gegenüber würden eingehalten. Illusionen über die Motive ihrer herrschenden Clique hat die Mehrheit der Ukrainer schon lange nicht mehr. Das Unerträglichste aber ist für sie, diese Elite «in Europa» zu sehen. Wiktor Janukowitschs Weigerung, das Abkommen zu unterzeichnen, war darum ein Moment der Wahrheit. Die Massenproteste in Kiew und anderen Städten sind nur eine Reaktion auf diese Wahrheit: Man hat sich von Illusionen verabschiedet und akzeptiert die Wirklichkeit.

 

Die Proteste, die auf dem Maidan, dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz, ausgebrochen sind, sehen aus wie eine Replik des Aufruhrs, der vor neun Jahren am gleichen Ort stattfand und die orange Revolution genannt wird. Doch dieses Mal hat die Regierung rücksichtsloser reagiert. Nach dem gewaltsamen Angriff der Polizei auf friedliche Demonstranten in der Nacht vom 30. November ist die Protestbewegung schnell angeschwollen und hat sich radikalisiert. Die Regierung hat darauf abermals mit Gewalt und Provokationen geantwortet und drakonische Gesetze verhängt, die aus der Ukraine einen Polizeistaat machen. Bei neuen Auseinandersetzungen zwischen radikalen Protestierenden und der Polizei am 19. Januar gab es zum ersten Mal seit Erlangen der Unabhängigkeit Tote und viele Verletzte.

 

Unheilvoll ist zudem der Einsatz von bezahlten Schlägern, die zivile Aktivisten belästigt, Autos in Brand gesetzt und Menschen von der Strasse und aus Spitälern entführt haben. Dutzende von Aktivisten werden noch vermisst, und es gibt ernsthafte Sorgen, dass ihr Schicksal dem von Juri Verbytsky ähnelt, einem Seismologen aus Lwiw, der tot im Wald, mit gefesselten Beinen und Händen und Spuren schwerer Folter, gefunden wurde. Erst am Donnerstagabend ist der sogenannte Auto-Maidan-Anführer Dmytro Bulatow in einem Dorf ausserhalb von Kiew mit Verletzungen und einem teilweise abgeschnittenen Ohr aufgefunden worden. Er war sechs Tage zuvor spurlos verschwunden, nachdem die Staatspolizei ihn angegriffen hatte. Ihor Lutsenko, ein Journalist, der ebenfalls aus dem Spital entführt wurde, konnte sich befreien. Er berichtete von schrecklichen Details der Folter. «Sie wollten, dass ich zugeben würde, der Westen bezahle mich», sagt er. «Sie schienen zu glauben, dass Leute nur für Geld wochenlang bei Minustemperaturen auf der Strasse bleiben

 

Dieses Unverständnis für den wahren Antrieb der Demonstranten ist das Problem, das die angeheuerten Schlägertypen mit ihren Herren vereint: Sie können nicht fassen, dass sich Tausende von Menschen für die gleichen Grundrechte einsetzen. Bereits das Gespräch über diese Werte entfremdet sie von den Protestierenden. Das kann auch der Hauptgrund sein, warum es der EU bisher nicht gelungen ist, in den Verhandlungen der vergangenen Jahre mit den Mitgliedern der ukrainischen Elite etwas zu erreichen. Deren provinzieller Weltblick und halbkrimineller Hintergrund sowie deren machtpolitische Instinkte verunmöglichen es, ihnen die Voraussetzungen einer demokratischen Ordnung wie Machtteilung, Kompromisse und «Checks and Balances» begreiflich zu machen.

 

Das allerdings verheisst nichts Gutes für die Verhandlungen zwischen der Regierung und der Opposition. Nach der Gewalteskalation stand die Ukraine kurz vor einem Bürgerkrieg. Es scheint, dass nur die Androhung internationaler Sanktionen die Regierung zu Konzessionen zwingt. Der Opposition wurde daraufhin die Führung der Regierung angeboten – was diese ablehnte. Denn ohne eine klare Regierungsmehrheit, ohne unabhängige Rechtsorgane, aber mit einem Präsidenten, der die Kontrolle über alle staatlichen Organe innehat, die Gesetze durchsetzen, käme diese Wende einem Selbstmord gleich.

 

Der Vorschlag der Opposition ist vernünftiger: alle vom Parlament verabschiedeten Gesetze der vergangenen vier Jahre aufzuheben. Darunter auch das Gesetz, das die Macht des Präsidenten grenzenlos gestärkt hat. Die Wiederherstellung eines Rechtsstaates wäre ein guter Anfangspunkt, um das ganze politische System von innen heraus neu zu gestalten. Darauf liesse sich ein fairer politischer und wirtschaftlicher Wettbewerb aufbauen – was die herrschende Elite wohl kaum akzeptieren könnte. Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition sind deshalb schwierig und können schnell kippen. Das wäre der Fall, wenn die Regierung wieder betrügt, Russland sich einmischt oder es zu Provokationen von echten oder simulierten nationalistischen Radikalen kommt. Für einen friedlichen Ausgang ist es aus all diesen Gründen entscheidend, dass die EU diesen Prozess beaufsichtigt.

 

Neue Werte und Allianzen

Wie auch immer die kurzfristigen Resultate dieses Prozesses aussehen mögen, die langfristige Aussicht ist klar. Trotz der tiefen inneren Kluft und den vielen Schwierigkeiten in der Ukraine wird es nicht zu einer Teilung des Landes kommen. Denn weder die politischen Kräfte des Mainstream noch die Bevölkerung unterstützen diese Idee. Der Euro-Maidan hat klarer als die orange Revolution gezeigt, dass die Trennungslinien in der Ukraine nicht den Osten vom Westen teilen. Vielmehr spaltet sich das Lager in Anhänger sowjetischer, panslawischer und antisowjetischer, proeuropäischer Werte und Einstellungen. Umfragen zeigten zum ersten Mal in den vergangenen zwanzig Jahren, dass die Unterschiede in den Wertehaltungen zwischen jungen ukrainischen Bürgern unter dreissig Jahren und den ältesten über sechzig Jahren grösser sind als zwischen Ost und West, Russen und Ukrainern oder Russophoben und Ukrainophoben.

 

Die orange Revolution wurde ganz richtig als die Revolution der Werte definiert. Das trifft auf den Euro-Maidan noch stärker zu. Es ist vor allem eine Revolution der Jüngeren, besser Ausgebildeten und der wohlhabenderen Bürger, die sich als Mittelklasse sehen. Diese Verschiebung der Werte in der Ukraine des vergangenen Jahrzehnts verdeutlicht, dass die westliche Ausrichtung des Landes unvermeidbar ist und seine Bewohner sich als ein Teil Europas fühlen. Vorherbestimmbar ist trotz dieser Klarheit aber nichts, und der Zeitpunkt und die sozialen Kosten eines Wandels werden deshalb auch nicht zu einer Nebensache. Im Gegenteil: In diesen Punkten ist alles offen, und beide hängen von klaren ukrainischen Anstrengungen und einem klaren internationalen Engagement ab.

 


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