Sie hielten sich damals ihre Leibjuden als Nützlinge, so wie man
sich Hunde hält. Nein, schlimmer: Denn den Juden stand die Tötung
bevor, das war längst entschieden. Ungewiss nur noch Zeitpunkt und
Todesart. In der ostpolnischen Stadt Drohobycz zum Beispiel hielt sich
der SS-Oberscharführer Karl Günther einen jüdischen Zahntechniker
namens Löw als seinen persönlichen Zahnarzt. Der SS-Hauptscharführer
Felix Landau wiederum, der einen Sinn fürs Schöne hatte, hielt
sich einen Zeichen- und Handarbeitslehrer namens Bruno Schulz als seinen
Maler, als Hofmaler sozusagen.
Felix Landau war ein Wiener Kunsttischler, österreichischer Nazi
der ersten Stunde und Träger des «Blutordens der NSDAP».
Zuständig für Organisation und Zuweisung der jüdischen
Arbeitssklaven an Betriebe, Baustellen, Haushalte, bewohnte Landau mit
zwei Kindern aus erster Ehe und seiner Geliebten eine beschlagnahmte gotisch
gestylte Villa in der Sankt-Jan-Strasse. Er galt als ein äusserst
effektiver Organisator, gefühllos beim Töten, wie er selbst
in seinem Tagebuch notierte, und er betrieb auch völlig schamlos
eine sehr geschickte persönliche Bereicherungspolitik, was er im
speziellen Nazihumor so formulierte: «Mir geht es gut. Die Juden
sorgen für mich, dafür schicke ich sie in den Himmel.»
Dass Landau sich in Bruno Schulz einen Leibjuden hielt, der als Schriftsteller
in der Vorkriegszeit mit den «Zimtläden» und dem «Sanatorium
zur Todesanzeige» Weltliteratur geschrieben hatte, davon wusste
dieser selbst ernannte «Judengeneral» nichts. Das interessierte
den Gestapochef nicht. Er kannte ihn als ortsbekannten Zeichner und Grafiker,
also gab er ihm Malaufträge der Nazimörder als Kunstmäzen.
Schulz malte also Fresken in Landaus «Reitschule» oder im
SS- und Gestapokasino, und er bemalte auch die Wände des Kinderzimmers
in der Landau-Villa mit Märchenmotiven.
SS-Meuchelmord
Derweil geht in Galizien das industriell organisierte Morden, genannt
«die Endlösung», seinen Gang. Die Spielregeln werden
weitgehend eingehalten, das heisst, die Deutschen machen weitgehend widerspruchslos
ihren Job, die Juden gehen widerspruchslos ins Gas. Selten werden die
Spielregeln verletzt: Am 19. November 1942 greift in Drohobycz der jüdische
Apotheker Reiner den Gestapomann Hübner mit einer Feuerwaffe an,
erfolglos zwar, aber folgenreich. In den Augen der deutschen Herrenmenschen
hat der Jude die Spielregel verletzt, sie brausen auf, sie schiessen im
heiligen Zorn den ganzen Tag über jeden Juden ab, der durch die Nurastrasse
heraufkommt, 230 insgesamt. An diesem Tag erschiesst Felix Landau beiläufig
dem Oberscharführer Günther, den er hasst, seinen Zahnarztjuden
Löw, und Karl Günther erschiesst zur Vergeltung dem Landau seinen
Malerjuden Bruno Schulz, als der den täglichen Weg aus dem Ghetto
herauf in die Oberstadt kommt.
Nach dem Krieg war Drohobycz eine andere, eine sowjetische Stadt. Die
Juden, die fast die Hälfte der Bevölkerung ausgemacht hatten,
von den Deutschen ermordet. Die Polen im Zuge von Stalins ethnischen Säuberungen
nach Westen verschoben. In die frei gewordenen Wohnungen strömten
ukrainische Familien aus den Dörfern und Kleinstädten. Eine
harte Zeit, bestimmt von den Mühen des Wiederaufbaus, von massenhaften
Deportationen der verdächtigen Ukrainer nach Sibirien und Kasachstan
und vom stalinistischen Aufbaupathos, man war «der Zukunft zugewandt».
Keine Zeit, um über die ermordeten Bewohner der Stadt zu trauern
oder an sie zu erinnern, besonders, da sie ja nicht zu den «Eigenen»
gehörten. Und so mischte sich der sowjetische Antisemitismus der
Nachkriegszeit recht praktisch mit der Angst, erwischt zu werden wegen
Kollaboration mit den Nazis oder wegen Arisierungs-Gewinnlertum
das Ergebnis (nicht anders als im Westen): Schweigen. Verdrängung.
Selbstmitleid.
Der Dichter und Maler Bruno Schulz geriet vollkommen in Vergessenheit.
Unzählige Menschen müssen an seinen Fresken in Drohobycz vorbeigegangen
sein damals, ohne sich dafür zu interessieren. Wichtige Manuskripte
gingen vorloren, zusammen mit den Freunden, denen sie anvertraut waren
im Gas, in Bränden, auf Fluchten. Manche Briefe, immerhin,
fanden sich später auf irgendwelchen vergammelten Dachböden.
Trotzdem: Im sowjetischen Herrschaftsbereich blieb Bruno Schulz Persona
non grata, ein postum noch unterdrückter Autor, «bürgerlich
dekadent», oder, wie ein kenntnisreicher sowjetischer Zensor schon
1940 erklärt hatte: «Wir brauchen keine Prousts.»
In Polen aber gab es eine Hand voll Menschen, die liessen nicht von ihm
ab, und für einen, den Dichter und Literaturwissenschaftler Jerzy
Ficowski, wurde Bruno Schulz zur Lebensaufgabe. Er liess niemals locker.
Zwar war Bruno Schulz schon seit 1934, als die «Zimtläden»
erstmals erschienen, in der literarischen Welt Polens eine Berühmtheit
gewesen, aber in Nachkriegspolen dauerte es bis in die so genannte «Tauwetterperiode»
drei Jahre nach Stalins Tod 1956/57, dann endlich konnten seine erhaltenen
Werke wieder veröffentlicht, kommentiert und diskutiert werden.
Dann in den sechziger Jahren der Durchbruch weltweit, Übersetzungen
in alle europäischen Sprachen (BRD 1961), Ausgaben in Nord- und Lateinamerika,
in Japan, in den Ostblockländern (DDR 1966), nur die UdSSR
und dort war ja inzwischen die Stadt Drohobycz, von der Bruno Schulz zeit
seines Lebens nicht loskam, untergebracht blieb verschlossen.
Allerdings, die literarische Szene der Westukraine nahm ihn auch ohne
offizielle Erlaubnis zur Kenntnis, und zwar sehr viel früher als
die russische; 1983 wurden Texte von Bruno Schulz in Iwano-Frankiwsk von
Mykola Jakowyna und Taras Wozniak ins Ukrainische übersetzt und in
Paris publiziert; 1989 erschienen die «Zimtläden» erstmals
auch in der UdSSR, nicht in Moskau, sondern in der ukrainischen Übersetzung
von Iwan Hniatjuk in der renommierten Lemberger Kulturzeitschrift «Zhowten»
(Oktober); dann brachte 1995 der Lemberger Proswita-Verlag die «Zimtläden»
und «Das Sanatorium zur Todesanzeige» in einer neuen Übersetzung
von Andrij Schkrabjuk heraus, Auflage 5000, nach vier Jahren vergriffen
wie viele andere Bücher auch für eine Neuauflage fehlt
nicht der gute Wille oder das literarische Interesse, sondern das Geld.
Entgegen also dem gängigen Stereotyp, wonach nämlich in der
Westukraine Bruno Schulz eigentlich völlig unbekannt und unerwünscht
sei, gibt es dort nicht nur provinzielle Ignoranz und Borniertheit, wie
wir sie weltweit auch andernorts von Emmendingen bis Lenzburg
beobachten können, sondern es findet sich dort eine erstaunlich grosse
Zahl von Schulz-Kennern und -Bewunderern, beispielsweise die Schriftsteller
Taras Prochasko und Jurij Andruchowytsch aus Iwano-Frankiwsk, die Lemberger
Maler Jurij Koch und Wolodja Kaufmann, und schliesslich: Selbstverständlich
liest jene polyglotte westukrainische Szene die Bruno-Schulz-Texte im
polnischen Original.
Sensationeller Fund
Man hatte sich längst damit abgefunden, dass ein grosser Teil der
Werke von Bruno Schulz unwiederbringlich verloren war, Briefe, Novellen
(darunter auch ein Text in deutscher Sprache), ein Romanmanuskript, zahlreiche
Zeichnungen und Grafiken und offenbar auch alle Fresken aus der Zeit der
deutschen Besetzung, nach denen vor allem Jerzy Ficowski seit den sechziger
Jahren in Drohobycz vergeblich gesucht hatte. Dann am 9. Februar 2001
eine Sensation, die durch die internationalen Medien ging: Der Filmemacher
Benjamin Geissler hat die Wandmalereien im ehemaligen Kinderzimmer der
Landau-Villa gefunden.
Nach jahrelangen Recherchen war der Hamburger Benjamin Geissler mit seinem
Vater, dem Schriftsteller Christian Geissler, nach Drohobycz gefahren,
um dort einen Teil der Aufnahmen für den Film «Bilder finden»
zu drehen. Zum Team gehörte auch der
Joseph-Roth-Übersetzer Jurko Prochasko aus Lemberg. Und in der Tat,
in einer Abstellkammer, die damals offenbar als Kinderzimmer gedient hatte,
fanden sich unter verschiedenen Schichten Putz die Märchenmotive,
von denen einige Zeitzeugen gesprochen hatten: Königin, Flötenspieler
und Narr, Kutsche, Pferdekopf. Weitere Motive blieben zunächst noch
verborgen.
Benjamin Geissler vermutet eine zusammenhängende Komposition dieser
Wandmalereien, mit vielen Querbezügen und Bezügen zu den Menschen,
unter deren Herrschaft Bruno Schulz damals in seiner Drohobyczer «Sixtina»
in der Sankt-Jan-Strasse arbeitete, einige frappierende Überblendungen
hat er in seinem Film schon gezeigt. Das interessierte Publikum wird Geisslers
Suche und seinen Funden und Assoziationen vermutlich im Winter selbst
folgen können, denn die internationale Fassung hat am 19. November
2002 (dem sechzigsten Todestag von Bruno Schulz) in New York Premiere,
danach kommt der Film zuerst ins Kino, dann bei Arte ins Fernsehprogramm.
Aber schon durch den fantastischen Fund in Drohobycz machte der Film lange
vor seiner Fertigstellung weltweit Schlagzeilen, zuerst in der Ukraine
und in Polen, dann schrieb Jurko Prochasko einen Artikel in der Hamburger
«Zeit», schliesslich konnte man darüber in Amerika lesen
und auch in Israel, und so kam dann letztendlich ein ganz erstaunlicher
Kulturkrimi ins Rollen.
Während sich noch das Filmteam und einige polnische und westukrainische
Gruppen Gedanken machten über eine vernünftige Restaurierungsstrategie
und das Projekt einer Gedächtnis- und Begegnungsstätte in der
vormaligen Landau-Villa, schafften andere unverhoffte Gäste Fakten,
die alle diese Projekte zu pulverisieren drohen.
Denn schon im März war aus Israel Mark Shraberman vom ehrwürdigen
Holocaust-Dokumentationszentrum Yad Vashem angereist. Der Mann sprach
ukrainisch und führte allerlei geheime Verhandlungen mit den lokalen
Behörden, reiste wieder ab und kam einen Monat später zurück
in Begleitung von zwei Restaurateuren, und am 21. Mai waren drei der bis
dahin freigelegten vier Fresken aus dem Mauerwerk herausgelöst und
kurz danach ohne jede Schwierigkeit über die Grenze nach Israel transportiert
worden.
Im Anschluss an diese Aktion gab Yad Vashem eine recht seltsame Erklärung
ab:
Man habe mit Hilfe des Bürgermeisters und des Kulturamtsleiters von
Drohobycz herausgefunden, dass die Fresken von Bruno Schulz in privatem
Besitz seien, und dann habe man die Werke nach 55 Jahren Nichtbeachtung
vor dem Verfall gerettet. Das war nun eine ziemlich unverfrorene
Behauptung, denn gefunden und aus der Nichtbeachtung gerettet wurden die
Bilder von Benjamin Geissler, und man hat nur deshalb in der Zeitung lesen
können, weil die Filmleute ihren Fund veröffentlicht haben.
Zur Frage der illegalen Ausfuhr dieser Kunstobjekte heisst es dann weiter
in aller Scheinheiligkeit: Yad Vashem habe eine schriftliche Einwilligung
der gegenwärtigen Wohnungsinhaber und eine schriftliche Erlaubnis
des Bürgermeisters von Drohobycz, der werde ja wohl die Landesgesetze
kennen.
Nein, der Diebstahl der Fresken wurde ganz offenkundig nach den üblichen
postsowjetischen Methoden durchgeführt: Das Rentnerpaar, das inzwischen
in der Landau-Wohnung lebt, bekam 100 Dollar in die Hand gedrückt,
worauf die gute Frau Kaluzhny eine völlig irrelevante «Einwilligung»
unterschreiben musste. Was der damalige Bürgermeister Drohobycz,
Herr Oleksyj Radzijewskyj, in die Hand gedrückt bekam, entzieht sich
unserer Kenntnis, ebenso rätselhaft bleibt, welche Kosten die illegale
Grenzüberschreitung verursacht hat.
Zerstörte Komposition
Und um das Mass voll zu machen, setzte die damalige Stadtverwaltung im
März 2002 das Zerstörungswerk fort, das Mark Shraberman in der
Landau-Villa begonnen hatte. Man liess fünf weitere Bildmotive freilegen
und aus der Wand herausschlagen und deponierte die Mauerfragmente in der
örtlichen Gemäldegalerie. Die aus Lwiw und Kiew angereisten
Journalisten bekamen nur die Rückseite der Fragmente zu sehen, aber
in dem zahlungskräftigen polnischen Massenblatt «Gazeta Wyborcza»
waren die Fresken abgebildet die böse Fee, der weisse Ritter,
eine Katze, zwei Kinder, eine Landschaft. Aber es bleibt dabei: Die Komposition
des ganzen Ensembles ist zerstört, es wird schwer sein, alles wieder
zu rekonstruieren.
Sogar in der «New York Review of Books» wird zurzeit eine
heftige Debatte geführt über die Frage, wohin denn nun die Fundstücke
aus Drohobycz gehören. Die Yad-Vashem-Sprecher drückten noch
einmal ihr tiefes Misstrauen gegenüber der westukrainischen Indifferenz
und Ignoranz aus und verstiegen sich in der Ausgabe vom 23. Mai zur Aussage,
vielleicht werde nur dank Yad Vashem die Erinnerung an Drohobycz nicht
untergehen. Darauf antwortete eine Gruppe von Wissenschaftlern um Padraic
Kenney und John Connelly mit dem Hinweis, Yad Vashem täte besser
daran, Partnerschaften in Mitteleuropa aufzubauen. Dann bräuchte
man nicht solche Zerstörungen anzurichten wie an den Wänden
der Landau-Villa, und dann könnten die Erinnerungen an Drohobycz
am richtigen Ort in eine Gegenwart hineinwirken, die noch so schwer belastet
ist von den Folgen des Sowjetsystems und des Kalten Krieges.
In der heutigen Ukraine existiert schon längst auch eine ganz anders
gestimmte Szene. Vor allem junge, gebildete Leute, die sich zwar durchaus
selbstbewusst als ukrainische Staatsbürger verstehen, die sich aber
genauso selbstverständlich auch regional (und damit zwangsläufig
grenzüberschreitend) als Bewohner Galiziens identifizieren, mit allen
seinen multikulturellen Traditionen. Die Debatte um die gefundenen Bilder
ist noch längst nicht ausgestanden, weder für Yad Vashem noch
für die Lokalpolitiker in Drohobycz, und das Projekt einer dem Dichter
und Maler Bruno Schulz gewidmeten Studien- und Begegnungsstätte ist
noch keineswegs aufgegeben.