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WochenZeitung WoZ online 11.7.2002

Kontroverse um entwendete Wandbilder

Fundstücke aus Drohobycz

Walter Mossmann

Sie hielten sich damals ihre Leibjuden als Nützlinge, so wie man sich Hunde hält. Nein, schlimmer: Denn den Juden stand die Tötung bevor, das war längst entschieden. Ungewiss nur noch Zeitpunkt und Todesart. In der ostpolnischen Stadt Drohobycz zum Beispiel hielt sich der SS-Oberscharführer Karl Günther einen jüdischen Zahntechniker namens Löw als seinen persönlichen Zahnarzt. Der SS-Hauptscharführer Felix Landau wiederum, der einen Sinn fürs Schöne hatte, hielt sich einen Zeichen- und Handarbeitslehrer namens Bruno Schulz als seinen Maler, als Hofmaler sozusagen.
Felix Landau war ein Wiener Kunsttischler, österreichischer Nazi der ersten Stunde und Träger des «Blutordens der NSDAP». Zuständig für Organisation und Zuweisung der jüdischen Arbeitssklaven an Betriebe, Baustellen, Haushalte, bewohnte Landau mit zwei Kindern aus erster Ehe und seiner Geliebten eine beschlagnahmte gotisch gestylte Villa in der Sankt-Jan-Strasse. Er galt als ein äusserst effektiver Organisator, gefühllos beim Töten, wie er selbst in seinem Tagebuch notierte, und er betrieb auch völlig schamlos eine sehr geschickte persönliche Bereicherungspolitik, was er im speziellen Nazihumor so formulierte: «Mir geht es gut. Die Juden sorgen für mich, dafür schicke ich sie in den Himmel.»
Dass Landau sich in Bruno Schulz einen Leibjuden hielt, der als Schriftsteller in der Vorkriegszeit mit den «Zimtläden» und dem «Sanatorium zur Todesanzeige» Weltliteratur geschrieben hatte, davon wusste dieser selbst ernannte «Judengeneral» nichts. Das interessierte den Gestapochef nicht. Er kannte ihn als ortsbekannten Zeichner und Grafiker, also gab er ihm Malaufträge – der Nazimörder als Kunstmäzen. Schulz malte also Fresken in Landaus «Reitschule» oder im SS- und Gestapokasino, und er bemalte auch die Wände des Kinderzimmers in der Landau-Villa mit Märchenmotiven.

SS-Meuchelmord
Derweil geht in Galizien das industriell organisierte Morden, genannt «die Endlösung», seinen Gang. Die Spielregeln werden weitgehend eingehalten, das heisst, die Deutschen machen weitgehend widerspruchslos ihren Job, die Juden gehen widerspruchslos ins Gas. Selten werden die Spielregeln verletzt: Am 19. November 1942 greift in Drohobycz der jüdische Apotheker Reiner den Gestapomann Hübner mit einer Feuerwaffe an, erfolglos zwar, aber folgenreich. In den Augen der deutschen Herrenmenschen hat der Jude die Spielregel verletzt, sie brausen auf, sie schiessen im heiligen Zorn den ganzen Tag über jeden Juden ab, der durch die Nurastrasse heraufkommt, 230 insgesamt. An diesem Tag erschiesst Felix Landau beiläufig dem Oberscharführer Günther, den er hasst, seinen Zahnarztjuden Löw, und Karl Günther erschiesst zur Vergeltung dem Landau seinen Malerjuden Bruno Schulz, als der den täglichen Weg aus dem Ghetto herauf in die Oberstadt kommt.
Nach dem Krieg war Drohobycz eine andere, eine sowjetische Stadt. Die Juden, die fast die Hälfte der Bevölkerung ausgemacht hatten, von den Deutschen ermordet. Die Polen im Zuge von Stalins ethnischen Säuberungen nach Westen verschoben. In die frei gewordenen Wohnungen strömten ukrainische Familien aus den Dörfern und Kleinstädten. Eine harte Zeit, bestimmt von den Mühen des Wiederaufbaus, von massenhaften Deportationen der verdächtigen Ukrainer nach Sibirien und Kasachstan und vom stalinistischen Aufbaupathos, man war «der Zukunft zugewandt». Keine Zeit, um über die ermordeten Bewohner der Stadt zu trauern oder an sie zu erinnern, besonders, da sie ja nicht zu den «Eigenen» gehörten. Und so mischte sich der sowjetische Antisemitismus der Nachkriegszeit recht praktisch mit der Angst, erwischt zu werden wegen Kollaboration mit den Nazis oder wegen Arisierungs-Gewinnlertum – das Ergebnis (nicht anders als im Westen): Schweigen. Verdrängung. Selbstmitleid.
Der Dichter und Maler Bruno Schulz geriet vollkommen in Vergessenheit. Unzählige Menschen müssen an seinen Fresken in Drohobycz vorbeigegangen sein damals, ohne sich dafür zu interessieren. Wichtige Manuskripte gingen vorloren, zusammen mit den Freunden, denen sie anvertraut waren – im Gas, in Bränden, auf Fluchten. Manche Briefe, immerhin, fanden sich später auf irgendwelchen vergammelten Dachböden. Trotzdem: Im sowjetischen Herrschaftsbereich blieb Bruno Schulz Persona non grata, ein postum noch unterdrückter Autor, «bürgerlich dekadent», oder, wie ein kenntnisreicher sowjetischer Zensor schon 1940 erklärt hatte: «Wir brauchen keine Prousts.»
In Polen aber gab es eine Hand voll Menschen, die liessen nicht von ihm ab, und für einen, den Dichter und Literaturwissenschaftler Jerzy Ficowski, wurde Bruno Schulz zur Lebensaufgabe. Er liess niemals locker. Zwar war Bruno Schulz schon seit 1934, als die «Zimtläden» erstmals erschienen, in der literarischen Welt Polens eine Berühmtheit gewesen, aber in Nachkriegspolen dauerte es bis in die so genannte «Tauwetterperiode» drei Jahre nach Stalins Tod 1956/57, dann endlich konnten seine erhaltenen Werke wieder veröffentlicht, kommentiert und diskutiert werden.
Dann in den sechziger Jahren der Durchbruch weltweit, Übersetzungen in alle europäischen Sprachen (BRD 1961), Ausgaben in Nord- und Lateinamerika, in Japan, in den Ostblockländern (DDR 1966), nur die UdSSR – und dort war ja inzwischen die Stadt Drohobycz, von der Bruno Schulz zeit seines Lebens nicht loskam, untergebracht – blieb verschlossen.
Allerdings, die literarische Szene der Westukraine nahm ihn auch ohne offizielle Erlaubnis zur Kenntnis, und zwar sehr viel früher als die russische; 1983 wurden Texte von Bruno Schulz in Iwano-Frankiwsk von Mykola Jakowyna und Taras Wozniak ins Ukrainische übersetzt und in Paris publiziert; 1989 erschienen die «Zimtläden» erstmals auch in der UdSSR, nicht in Moskau, sondern in der ukrainischen Übersetzung von Iwan Hniatjuk in der renommierten Lemberger Kulturzeitschrift «Zhowten» (Oktober); dann brachte 1995 der Lemberger Proswita-Verlag die «Zimtläden» und «Das Sanatorium zur Todesanzeige» in einer neuen Übersetzung von Andrij Schkrabjuk heraus, Auflage 5000, nach vier Jahren vergriffen wie viele andere Bücher auch – für eine Neuauflage fehlt nicht der gute Wille oder das literarische Interesse, sondern das Geld.
Entgegen also dem gängigen Stereotyp, wonach nämlich in der Westukraine Bruno Schulz eigentlich völlig unbekannt und unerwünscht sei, gibt es dort nicht nur provinzielle Ignoranz und Borniertheit, wie wir sie weltweit auch andernorts – von Emmendingen bis Lenzburg – beobachten können, sondern es findet sich dort eine erstaunlich grosse Zahl von Schulz-Kennern und -Bewunderern, beispielsweise die Schriftsteller Taras Prochasko und Jurij Andruchowytsch aus Iwano-Frankiwsk, die Lemberger Maler Jurij Koch und Wolodja Kaufmann, und schliesslich: Selbstverständlich liest jene polyglotte westukrainische Szene die Bruno-Schulz-Texte im polnischen Original.

Sensationeller Fund
Man hatte sich längst damit abgefunden, dass ein grosser Teil der Werke von Bruno Schulz unwiederbringlich verloren war, Briefe, Novellen (darunter auch ein Text in deutscher Sprache), ein Romanmanuskript, zahlreiche Zeichnungen und Grafiken und offenbar auch alle Fresken aus der Zeit der deutschen Besetzung, nach denen vor allem Jerzy Ficowski seit den sechziger Jahren in Drohobycz vergeblich gesucht hatte. Dann am 9. Februar 2001 eine Sensation, die durch die internationalen Medien ging: Der Filmemacher Benjamin Geissler hat die Wandmalereien im ehemaligen Kinderzimmer der Landau-Villa gefunden.
Nach jahrelangen Recherchen war der Hamburger Benjamin Geissler mit seinem Vater, dem Schriftsteller Christian Geissler, nach Drohobycz gefahren, um dort einen Teil der Aufnahmen für den Film «Bilder finden» zu drehen. Zum Team gehörte auch der
Joseph-Roth-Übersetzer Jurko Prochasko aus Lemberg. Und in der Tat, in einer Abstellkammer, die damals offenbar als Kinderzimmer gedient hatte, fanden sich unter verschiedenen Schichten Putz die Märchenmotive, von denen einige Zeitzeugen gesprochen hatten: Königin, Flötenspieler und Narr, Kutsche, Pferdekopf. Weitere Motive blieben zunächst noch verborgen.
Benjamin Geissler vermutet eine zusammenhängende Komposition dieser Wandmalereien, mit vielen Querbezügen und Bezügen zu den Menschen, unter deren Herrschaft Bruno Schulz damals in seiner Drohobyczer «Sixtina» in der Sankt-Jan-Strasse arbeitete, einige frappierende Überblendungen hat er in seinem Film schon gezeigt. Das interessierte Publikum wird Geisslers Suche und seinen Funden und Assoziationen vermutlich im Winter selbst folgen können, denn die internationale Fassung hat am 19. November 2002 (dem sechzigsten Todestag von Bruno Schulz) in New York Premiere, danach kommt der Film zuerst ins Kino, dann bei Arte ins Fernsehprogramm.
Aber schon durch den fantastischen Fund in Drohobycz machte der Film lange vor seiner Fertigstellung weltweit Schlagzeilen, zuerst in der Ukraine und in Polen, dann schrieb Jurko Prochasko einen Artikel in der Hamburger «Zeit», schliesslich konnte man darüber in Amerika lesen und auch in Israel, und so kam dann letztendlich ein ganz erstaunlicher Kulturkrimi ins Rollen.
Während sich noch das Filmteam und einige polnische und westukrainische Gruppen Gedanken machten über eine vernünftige Restaurierungsstrategie und das Projekt einer Gedächtnis- und Begegnungsstätte in der vormaligen Landau-Villa, schafften andere unverhoffte Gäste Fakten, die alle diese Projekte zu pulverisieren drohen.
Denn schon im März war aus Israel Mark Shraberman vom ehrwürdigen Holocaust-Dokumentationszentrum Yad Vashem angereist. Der Mann sprach ukrainisch und führte allerlei geheime Verhandlungen mit den lokalen Behörden, reiste wieder ab und kam einen Monat später zurück in Begleitung von zwei Restaurateuren, und am 21. Mai waren drei der bis dahin freigelegten vier Fresken aus dem Mauerwerk herausgelöst und kurz danach ohne jede Schwierigkeit über die Grenze nach Israel transportiert worden.
Im Anschluss an diese Aktion gab Yad Vashem eine recht seltsame Erklärung ab:
Man habe mit Hilfe des Bürgermeisters und des Kulturamtsleiters von Drohobycz herausgefunden, dass die Fresken von Bruno Schulz in privatem Besitz seien, und dann habe man die Werke nach 55 Jahren Nichtbeachtung vor dem Verfall gerettet. – Das war nun eine ziemlich unverfrorene Behauptung, denn gefunden und aus der Nichtbeachtung gerettet wurden die Bilder von Benjamin Geissler, und man hat nur deshalb in der Zeitung lesen können, weil die Filmleute ihren Fund veröffentlicht haben. Zur Frage der illegalen Ausfuhr dieser Kunstobjekte heisst es dann weiter in aller Scheinheiligkeit: Yad Vashem habe eine schriftliche Einwilligung der gegenwärtigen Wohnungsinhaber und eine schriftliche Erlaubnis des Bürgermeisters von Drohobycz, der werde ja wohl die Landesgesetze kennen.
Nein, der Diebstahl der Fresken wurde ganz offenkundig nach den üblichen postsowjetischen Methoden durchgeführt: Das Rentnerpaar, das inzwischen in der Landau-Wohnung lebt, bekam 100 Dollar in die Hand gedrückt, worauf die gute Frau Kaluzhny eine völlig irrelevante «Einwilligung» unterschreiben musste. Was der damalige Bürgermeister Drohobycz’, Herr Oleksyj Radzijewskyj, in die Hand gedrückt bekam, entzieht sich unserer Kenntnis, ebenso rätselhaft bleibt, welche Kosten die illegale Grenzüberschreitung verursacht hat.

Zerstörte Komposition
Und um das Mass voll zu machen, setzte die damalige Stadtverwaltung im März 2002 das Zerstörungswerk fort, das Mark Shraberman in der Landau-Villa begonnen hatte. Man liess fünf weitere Bildmotive freilegen und aus der Wand herausschlagen und deponierte die Mauerfragmente in der örtlichen Gemäldegalerie. Die aus Lwiw und Kiew angereisten Journalisten bekamen nur die Rückseite der Fragmente zu sehen, aber in dem zahlungskräftigen polnischen Massenblatt «Gazeta Wyborcza» waren die Fresken abgebildet – die böse Fee, der weisse Ritter, eine Katze, zwei Kinder, eine Landschaft. Aber es bleibt dabei: Die Komposition des ganzen Ensembles ist zerstört, es wird schwer sein, alles wieder zu rekonstruieren.
Sogar in der «New York Review of Books» wird zurzeit eine heftige Debatte geführt über die Frage, wohin denn nun die Fundstücke aus Drohobycz gehören. Die Yad-Vashem-Sprecher drückten noch einmal ihr tiefes Misstrauen gegenüber der westukrainischen Indifferenz und Ignoranz aus und verstiegen sich in der Ausgabe vom 23. Mai zur Aussage, vielleicht werde nur dank Yad Vashem die Erinnerung an Drohobycz nicht untergehen. Darauf antwortete eine Gruppe von Wissenschaftlern um Padraic Kenney und John Connelly mit dem Hinweis, Yad Vashem täte besser daran, Partnerschaften in Mitteleuropa aufzubauen. Dann bräuchte man nicht solche Zerstörungen anzurichten wie an den Wänden der Landau-Villa, und dann könnten die Erinnerungen an Drohobycz am richtigen Ort in eine Gegenwart hineinwirken, die noch so schwer belastet ist von den Folgen des Sowjetsystems und des Kalten Krieges.
In der heutigen Ukraine existiert schon längst auch eine ganz anders gestimmte Szene. Vor allem junge, gebildete Leute, die sich zwar durchaus selbstbewusst als ukrainische Staatsbürger verstehen, die sich aber genauso selbstverständlich auch regional (und damit zwangsläufig grenzüberschreitend) als Bewohner Galiziens identifizieren, mit allen seinen multikulturellen Traditionen. Die Debatte um die gefundenen Bilder ist noch längst nicht ausgestanden, weder für Yad Vashem noch für die Lokalpolitiker in Drohobycz, und das Projekt einer dem Dichter und Maler Bruno Schulz gewidmeten Studien- und Begegnungsstätte ist noch keineswegs aufgegeben.