"Gadamers hermeneutische Methode bei der Erkenntnis der Geschichte"Philosophieseminar mit Jean Grondin, Professor an der Universitaet Montreal 14.10.2002, Goethe-Institut Inter Nationes in Zusammenarbeit mit der Zeitschrift
"Ji" und der Stiftung "Philosophisches Projekt". |
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Jean Grondin, geb. 1955; studierte Philosophie und Theologie an den Universitäten Montréal, Heidelberg und Tübingen; z. Zt. Professor für Philosophie in Montréal und regelmäßige Lehrtätigkeit in Ottawa. Grondin gilt weltweit als einer der renommiertesten Gadamer-Experten. Von seinen zahlreichen Veröffentlichungen sind besonders zu erwähnen: Hermeneutische Wahrheit? Zum Wahrheitsbegriff Hans-Georg Gadamers (1982, 21994), Der Sinn für Hermeneutik (1994), Hans-Georg Gadamer. Eine Biographie (1999), Einführung in die Hermeneutik (22001). Jean GrondinVortrag in Lemberg am 14. Oktober 2002 Gadamers hermeneutische “Methode” bei der Erkenntnis der Geschichte
1. Zur Methode: gibt es eine hermeneutische Methode? 2. Zur Erkenntnis: sie ist nicht nur Erkenntnis 3. Zum Hermeneutischen: das Angesprochenwerden 4. Zur Geschichte: wir gehören ihr in der Tat mehr, als daß sie uns gehört 5. Zu “Gadamer” Gern füge ich mich - gleichsam als einer Herausforderung - dem Titel, der mir vorgeschlagen wurde, der mir in der Tat sehr herausfordernd, ja “geladen” vorkommt, wie man etwa sagt, daß eine Pistole geladen ist. So geladen in der Tat, daß mir dabei sogar jedes Wort der Erläuterung zu verdienen scheint. Was heißt Methode, was heißt hier Erkenntnis, usw? Der Reihenfolge nach möchte ich also von der Methode, der Erkenntnis, der Geschichte und der Hermeneutik handeln. Vielleicht kann ich auch zum Schluss etwas über Gadamer sagen. 1. Die Methode 2. Die Erkenntnis 3. Das Hermeneutische 4. Die Geschichte 5. “Gadamer” (was einschließt, daß Sie mir alle möglichen Fragen über Gadamer stellen können, wenn Sie wollen) Entschuldigen Sie, bitte, wenn ich so langsam zu lesen und so nur zu buchstabieren scheine. Ich kann nicht anders. Ich glaube aber auch, einer Devise von Gadamer zu folgen. Als er in Amerika lehrte, zeigte Gadamer eines Tages seinen Studenten1 ein Blatt über einen Kurs, der versprach, “schnelles Lesen” zu lehren. Gadamer sagte, ich möchte Ihnen nun beibringen, wie man “langsam” liest und lesen soll. Lesen heißt bei Gadamer - wie bei Heidegger - Aufsammeln, Auslesen, Auskosten. Gadamers Begriff des Lesens ist also sehr weit zu faßen. Das Lesen behält nämlich bei Gadamer den Nebenton des Aufsammeins (auf Französisch sagt man: “recueillement”), des Auslesen- und Gärenlassens. Man muß das Gehörte durch das innere Ohr hindurchgehen lassen, um es in seiner Bedeutung, d.h. in seinem Wiederklang in uns zu erfassen. Gilt das nicht für jede Erfahrung von Sinn überhaupt, daß ein "gelesener" Sinn mein inneres Ohr erreichen soll? So wird das Lesen für Gadamer zu einem anderen Wort für das Verstehen überhaupt: "Lesen", schreibt er, ist "die gemeinsame Grundstruktur allen Vollzuges von Sinn" (ebd. 19). So möchte ich Gadamer lesen und das heißt: verstehen. Fangen wir also mit dem Thema, mit dem man meist anzufangen pflegt und den man immer voranstellt: die Methode. l. Zur Methode: gibt es eine hermeneutische Methode? Es ist natürlich etwas ironisch, von einer “hermeneutischen Methode” im Falle Gadamers zu sprechen. Denn Gadamer behauptet öfter, daß es so etwas nicht gebe: “Eine hermeneutische Methode gibt es nicht”.2 Er reagierte damit auf einen Kritiker (Jean Bollack), der ihm vorwarf, seine “hermeneutische Methode” sei “zu phänomenologisch”. Dem entgegnete Gadamer: “Was soll denn der Gegensatz zu 'phänomenologisch' sein?”3. Er meint damit, daß man ja nicht phänomenologisch genug sein kann. Mit anderen Worten: man kann entweder phänomenologisch sein oder nicht. Aber wenn man unphänomenologisch vorgeht, bedeutet das einfach, daß die Sachen nicht sprechen. Es passiert oft, daß das Gesagte nichts sagt. Phänomenologie ist also eine Tugend. Je mehr, je besser die Sachen sprechen, um so besser. Dafür gibt es aber keine Methode, die man bloß anzuwenden hätte, sondern nur Sprache, sprechende Sprache. Das gilt von jeder Begegnung mit Kunst, daß sie spricht, daß sie uns anspricht. Deshalb heißt sein Gedichtband: “Gedicht und Gespräch”. Wenn ich ein Gedicht lese, trete ich in ein Gespräch hinein. Ich antworte auf eine Anrede. Es ist das Gedicht, das mich dazu einlädt, und ich verstehe nur, sofern ich mich ansprechen lasse und das heißt: sofern ich antworte. Man kommt mit, wie man bei einem Musikstück mitsingt oder mittanzt, wenn man es hört. Dafür gibt es keine Methode, ebensowenig wir für ein Gespräch allerdings (ein Programm verdirbt jedes Gespräch, sagte oft Gadamer). Deshalb glaubt Gadamer, daß man in den herkömmlichen Theorien des Verstehens das Methodische vielleicht zu einseitig hervorgehoben hat. Warum hat man es getan? Es ist so: Die Geisteswissenschaften, die stets um ihre Glaubwürdigkeit ringen müssen, wollten sich als respektable Wissenschaften neben den Naturwissenschaften etablieren. Wie hatten die Naturwissenschaften ihre Erfolge erzielen können? Dank ihrer strengen Methode. Methode galt also als der Königsweg zur Wahrheit. Das ist unbestreitbar, aber in den Geisteswissenschaften und in der Begegnung mit Kunst, erscheint nicht allein die Methode das Ausschlaggebende, sondern die Wahrheit, die mich anspricht, die mich umstößt, weil sie ein Wahres sagt. Deshalb hebt sich Gadamer in seinem Hauptwerk polemisch von den hermeneutischen Entwürfen seiner Vorgänger ab, vor allem von Schleiermacher und Dilthey ab, die Hermeneutik viel zu sehr methodologisch verstanden hätten. “Die hermeneutischen Regeln müssen mehr Methode sein”, schrieb Schleiermacher.4 Diesem “mehr Methode!” scheint Gadamer ein “weniger Methode” entgegenzusetzen. Es wäre jedoch ein Mißverständnis, in Gadamers Hermeneutik ein Plädoyer “gegen die Methode” (wie etwa bei Paul Feyerabend, “Against Method”) zu sehen. Man muß sicherlich Methoden folgen, wenn man eine Brücke bilden, ein mathematisches Problem lösen, ein Heilmittel gegen Aids finden oder eine historischkritische Ausgabe herausgegeben will. Das ist Gadamer völlig selbstverständlich und es ist ihm nie in den Sinn gefallen, das in Abrede stellen zu wollen. Gadamer hat selber von den von ihm hochgeschätzten Methodologien der Wissenschaften viel gelernt. Es handelt sich für ihn um Evidenzen. Was er beanstandet, ist also nicht die methodische Wissenschaft als solche (was töricht wäre), sondern die Faszination, die von ihr ausgeht5 und die uns dazu verführt, das Verstehen rein Instrumenten zu verstehen und damit zu verfehlen. So schrieb er in einer wichtigen Selbstdarstellung, daß “die Hermeneutik und ihre methodischen Konsequenzen aus der Theorie der modernen Wissenschaft nicht so viel zu lernen haben wie aus älteren Traditionen, an die es sich zu erinnern gilt” (GW 2, 498). Gadamer denkt hier insbesondere an das Zeugnis der Kunst, die uns eine Wahrheit auf nicht methodischem Wege vermittelt, weil wir da in ein Gespräch eintreten. Es stimmt also nicht, daß die Wahrheit immer unabhängig von Beobachter sein soll, wie in den Naturwissenschaften. Es gibt auch eine Wahrheit des Dabeiseins, des Ergriffenseins vom Verstehen. Das gilt auch vom Gespräch, wo man auf den anderen hört, sich in seine Situation hineinbringt, aber auch von jeder Begegnung mit Kunst. Damit komme ich zum zweiten Thema, ja zum zweiten Wort unseres Titels, der mir der Erläuterung zu bedürfen scheint. 2. Zur Erkenntnis: sie ist nicht nur Erkenntnis Wir haben soeben gesehen, daß die Erfahrung der Wahrheit, d.h. die daß etwas trifft, nicht immer nur von methodischer Distanzierung abhängt. Für Gadamer heißt Verstehen vielmehr: ins Spiel treten, eingenommen werden vom Gesagtem. Er bemüht dabei die Spielmetapher, weil das von jedem Spiel gilt. Man spielt nur richtig (!), als Mitspieler oder als Zuschauer, weil man sich in das Spiel hineinziehen läßt wie in eine uns übertreffende Wahrheit. Nun ist das nur eine Sache von Erkenntnis im engen Sinne? Wenn man ein Gedicht, eine Geschichte, ein Musikstück versteht oder interpretiert, ist das nur eine Erkenntnis? Sicherlich nicht. Das ist, sagt Gadamer, eher ein Vollzug: man ist gleichsam “ergiffen”, corps et äme, wie man auf Französisch sagt, durch Körper und Seele, und so sehr, daß man nicht recht sagen kann, was (mit) einem geschieht. Deshalb betont Gadamer dabei den Ereignischarakter des Verstehens. Gadamer wollte ja ursprünglich seinem Werk den Titel “Verstehen und Geschehen” geben. Ein programmtischer Text aus der Einleitung erklärt auch, warum: “Wenn im folgenden nachgewiesen werden wird, wieviel Geschehen in allem Verstehen wirksam ist und wie wenig durch das moderne Bewußtsein die Traditionen, in denen wir stehen, entmächtigt sind, so werden damit nicht etwa den Wissenschaften oder der Praxis des Lebens Vorschriften gemacht, sondern es wird versucht, ein falsches Denken über das, was sie sind zu berichtigen.” (WM, 3). Es geht also nicht um eine neue Methode, auch nicht um eine Anti-Methode, aber um das Geschehen des Verstehens selber, auch wenn man es methodisch praktiziert: “Nicht, was wir tun, nicht, was wir tun sollen, sondern was über unser Wollen und Tun hinaus geschieht, steht in Frage.” (GW 2, 438) Der Begriff des Verstehens führt hier leicht in die Leere, weil man daran gewöhnt ist, es rein intellektuell zu fassen, d.h. als einen kognitiven Vorgang, der in unserer Verfügung stünde und der sich immer verifizieren ließe. Das Verstehen, von dem Gadamer handelt, ist im Grunde weniger eine “Erkenntnis” als eine Erfahrung, buchstäblich: etwas, das (mit) uns geschieht. Sie bildet das Element, in dem wir atmen und das es uns erlaubt, einander zu verstehen und Erfahrungen zu teilen. Es handelt sich freilich weniger um die Erfahrung, die der Wissenschaftler in seinem Laboratorium herstellt, als die Erfahrung im Sinne des pathei mathos des Aischylos, die Erfahrung, die uns trifft und umwirft und die uns dauerhafter und entschiedener prägt als jedes noch so wissenschaftlich oder analytisch sein wollende Argument, das man bald vergißt. Verstehen heißt nicht Begreifen und Beherrschen. Es ist wie das Atmen und das Lieben: man weiß nicht so recht, was uns da hält und woher der Wind kommt, der uns Leben zufließt, aber wir wissen, daß alles davon abhängt und daß wir nichts beherrschen. Man muß dabei sein, um zu erfahren, worum es geht und um zu wissen, daß es weniger ein Wissen als ein Sein ist. Man huldigt einer instrumentellen Erkenntnisauffassung, wenn man hier, wie in den heutigen philosophischen Debatten üblich, nach Kriterien, Normen und Begründung heischt. Gadamer sagte neuerdings6: “Verstehen heißt Nichtauslegenkönnen”. Man ist so vom Verstehen gefesselt, im Verstehen drin, daß man kaum erklären kann, was und wie uns geschieht. Heidegger hatte bereits begonnen, das Verstehen von dem engen epistemologischen Modell loszulösen, als er es von der Formel “sich auf etwas verstehen” her neu verstand (SZ, 143). Verstehen heißt einer Sache gewachsen sein, etwas können. Dieses Können ist weniger eine Erkenntnis als eine praktische Fertigkeit, die aber auch eine Möglichkeit meines selbst manifestiert: “ich” verstehe mich auf dieses oder jenes, ich kann es. So verstehe ich mich aufs Tanzen oder aufs Schwimmen, nicht weil ich da etwas weiß oder gute Methoden anwende, sondern weil ich es einfach kann. Geht dieses Vermögen in Erkenntnis und Beherrschung auf? Es ist nämlich wichtig zu sehen, daß es ein Stück Nichtkönnen und Nichtverstehen im Verstehen selber gibt. Jedes Können oder Vermögen setzt ein Unvermögen voraus. Das steckt bereits in der Formel “einer Sache gewachsen sein”. Sie schließt ja ein, daß man der Sache gerade nur gewachsen ist, daß es gerade ausreicht. Aber was hier “gekonnt” wird, kann jederzeit in ein Unvermögen umschlagen: Der beste Fußballspieler der Welt kann mal ein schlechtes Spiel spielen. Der beste Rhetoriker kann eines Tages stammeln, wie der Stammelnde mal auch auf eine glänzende Formulierung stoßen kann. Etwas können, etwas verstehen, impliziert ein Unvermögen, ein Nichtverstehen. Für Heidegger war das Nichtkönnen sogar das Primäre7: die Geworfenheit ist so sehr die grundlegende Dimension, daß das Verstehen sich wie eine Eroberung, eine uns selbst überraschende Errungenschaft ausnimmt. Wer versteht, wirkt wie das Kind, das plötzlich merkt, daß es radfahren kann und vor lauter Ergriffenheit nicht sieht, das es gefährlich schnell hin und her taumelt. Die traditionnelle Hermeneutik war verständlicherweise darum bestrebt, dieses so zerbrechliche Verstehen durch Regeln sicherer zu machen. Nach Gadamer kommt es weniger darauf an als auf die Wiederentdeckung einer Wahrheitserfahrung, die sich diesem Sicherheitsideal nicht ganz fügt. Es geht also um eine Wahrheitserfahrung, die “den Kontrollbereich wissenschaftlicher Methodik übersteigt” (WM, l). Gadamers Hermeneneutik möchte daran erinnern, daß Wahrheit nicht nur und vielleicht nicht primär eine Sache von Methode ist, ja vielleicht nicht einmal von “Erkenntnis” im engen Sinne (sondern eine Erfahrung, die mit uns geschieht). Es ist nach Gadamer “die Methodensucht”8, vor der der junge Kant bereits warnte, die uns uns dazu führt, diese Wahrheitserfahrung rein erkenntnismäßig zu konstruieren und dabei völlig zu verunstalten. Seine Hermeneutik ist insofern anamnetisch. Sie erinnert an den Ereignischarakter des Verstehens, das nicht nur eine Sache von Erkenntnis, wohl aber von Wahrheit. 3. Zum Hermeneutischen: das Angesprochenwerden Das Verstehen, dessen wir dabei “teilhaftig” werden, verdient es, “hermeneutisch” genannt zu werden. Das will hier nur sagen: Ich verstehe nur, insofern ich mich selber ins Gespräch mit der Sache bringe, indem ich selber mitspreche und antworte. Ein Sinn, den ich verstehe, ist immer ein Sinn, den ich in meinen Worten artikulieren und den ich damit auf meine Situation anwenden kann. Gadamers Hermeneutik rückt also die sprachliche Dimension des Verstehens in den Vordergrund. Sie blieb bei dem “praktischen Können” von Sein und Zeit eher unterbelichtet, wenn nicht völlig absent. Gadamer hat dabei selber das Verstehen an das Modell der Verständigung angelehnt. Man kann im Deutschen sowie in anderen Sprachen sagen, daß man “sich versteht”, um ein sprachliches Übereinkommen anzudeuten. Verstehen heißt dann so viel wie: sich mit jemandem über etwas sprachlich verständigen. Gadamer zieht daraus, die Konsequenz, daß Verstehen wesentlich sprachlich verfasst ist: Verstehen ist ein Wortesuche und -finden für das, was gesagt werden will. Das Verstehen ist also nicht bloß ein Erkennen oder ein praktisches Können, das monologisch verfährt. Es setzt die Anrede durch den anderen - die andere Person, das Kunstwerk, den Text - voraus: Das Verstehen ist immer zugleich eine Antwort, ein Antwortenkönnen. In Wahrheit und Methode sagt daher Gadamer, daß die Sprache sowohl den hermeneutischen Vollzug (also das Verstehen) als auch den hermeneutischen Gegenstand (das, was man zu verstehen sucht) bestimmt (ja: bestimmt). Verstehen heißt: eine Sprache suchen für das, was ist und nach Sprache schreit. Dieses “etwas” läßt sich aber wiederum nur sprachlich nachvollziehen. So lautet Gadamers Diktum: “Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache”. Ich verstehe nur, sofern ich etwas in eine Sprache übersetzten kann, die ich nachvollziehen kann. Das heißt aber, daß ich immer nur von meinen Voraussetzungen aus verstehen kann, die ich aufs Spiel setzen. Diese Einsicht führt unmißverständlich zur Problematik des Geschichte. 4. Zur Geschichte: wir gehören ihr in der Tat mehr, als daß sie uns gehört Der mir vorgeschlagene Titel sprach von Gadamers hermeneutischer “Methode” bei der Erkenntnis der Geschichte. Nun auch hier würde ich Vorsicht anmahnen. Es geht bei Gadamer nicht nur um das Verständnis der Geschichte als eines Gegenstandes, als eines Objektes des Verstehens oder der “Erkenntnis”, sondern auch hier um die Geschichte, die im Verstehen am Werke ist. Es gibt kein Verstehen der Geschichte ohne Wirkungsgeschichte, ohne eine in uns wirkende Gechichte. Damit berühren wir natürlich eine zentrale These von Gadamer, die viele Facetten hat und denen allen ich hier nicht werde gerecht werden können. Gehen wir also davon aus, daß die Geschichte nicht nur der Gegenstand des Verstehens ist. Sie ist auch im Verstehen selber am Werke, sofern man immer von einer bestimmten Tradition aus versteht, besser vielleicht: von bestimmten Traditionen aus, die etwas als bedeutungsträchtig herausgestellt haben. Das Verstehen ist also selber ein geschichtliches, ein geschichtliches Ereignis. Was bedeutet das aber? Es bedeutet zunächst, daß die Geschichtlichkeit des Verstehens nicht nur eine Beeinträchtigung impliziert, wie man oft meint. Die Geschichtlichkeit ist auch das, was unser Verstehen, unser Fragenkönnen nach Geschichte möglich macht. Nach Gadamer wurde diese Tatsache in der traditionnellen Hermeneutik der Geisteswissenschaften nur negativ gesehen, nämlich als Beeinträchtigung der Objektivität der Interpretation, die der Standpunkt des Interpreten nur gefährden könnte. Nein, sagt Gadamer, diese Geschichte, die im Verstehen wirkt, ist auch eine Bedingung des Verstehens. Er möchte sie zum Tragen kommen lassen: “Die Zugehörigkeit des Interpreten zu seinem Gegenstande, die in der Reflexion der historischen Schule keine rechte Legitimation zu finden vermochte, erhält nun einen konkret aufweisbaren Sinn, und es ist die Aufgabe der Hermeneutik, die Aufweisung dieses Sinnes zu leisten.” (WM 268). Nach Gadamer war Heidegger, der erste, der das anerkannte, als er in der Vorstruktur des Verstehens ein Wesensmerkmal des Verstehens erblickte. Man versteht nur von einer Vorstruktur aus, über die sich das Verstehen im klaren werden soll. Es ist Gadamers Absicht, Heideggers Einsicht auf das Feld der geisteswissenschaftlichen Textinterpretation anzuwenden. Es ließe sagen, daß Gadamer den Heideggerschen Zirkel damit philologisiert oder genauer: re-philologisiert, denn er stammte ja ursprünglich aus der Hermeneutik und der Rhetorik. Zu dieser Verschiebung der Zirkelproblematik hat Odo Marquard das bekannte bonmot geprägt, Gadamer hätte Heideggers Sein-zum-Tode durch ein “Sein-zum-Text” ersetzt.9 Auch wenn es Gadamers bekundete Absicht ist, die Heideggersche Zirkelproblematik auf eine Hermeneutik der Geisteswissenschaften anzuwenden, bleibt dieses bonmot etwas an der Oberfläche. Gadamer vergißt ja nicht die radikalere Hermeneutik seines Lehrers, wenn er sie auf das traditionnelle Paradigma der Hermeneutik, nämlich das Textverstehen anwendet: Kann man “Texte” interpretieren oder lesen unter Ausschaltung seines eigenen Seins-zum-Tode? Der Text, den ich interpretiere, spricht immer die Endlichkeit des Textes an, der ich für mich selber zeit meines Lebens bin. Die Pointe der Heideggerschen Analyse sieht Gadamer auch weniger in der Erinnerung daran, daß im Verstehen ein Zirkel vorliegt, denn die Rhetorik und die romantische Hermeneutik hatten um ihn immer schon gewußt, sondern darin, daß dieser Zirkel “überhaupt nicht ein methodischer Zirkel [ist], sondern ein ontologisches Strukturmoment des Verstehens” beschreibt (WM 299). Ein methodischer Zirkel wäre es nämlich in einer epistemologischen oder kartesianischen Perspektive, nach der das Verstehen linear von Evidenz zu Evidenz fortschreitet. Versteht man immer auf diese deduktive Art und Weise, fragt Gadamer? Erfolgt nicht vielmehr das Verstehen aufgrund von mehr oder weniger ausdrücklichen Sinnantizipationen, die sich vor dem Hintergrund einer Traditionszugehörigkeit bilden? Bei Gadamer und Heidegger geht es also darum, sich der Geschichtlichkeit des Verstehens inne zu werden. Es ist diese Bewußtwerdung, die Heidegger in Sein und Zeit provokativ, aber kritisch “Auslegung” nannte. Sie ist buchstäblich ein Verstehen der im Verstehen wirkenden Voraussetzungen, die durch die Aus-legung, d.h. die Auseinander-legung zur Aufklärung kommen sollen. Gewiß: Gadamer betont vielleicht mehr als Heidegger, daß diese Aufklärung immer nur sehr begrenzt bleiben kann. “Verstehen” heißt ja “Nichtauslegenkönnen”, sagte er. Sind wir immer imstande, die geschichtlichen Voraussetzungen (oder Vorurteile) auszusprechen, von denen aus wir verstehen? Schwerlich. Die Geschichte wirkt, arbeitet also in unserem Rücken. Das bedeutet aber nach Gadamer nicht, daß alles heillos relativ ist. Gadamer hat sich immer gegen die Anklage des historischen Relativismus gewehrt. Man hat ihn dabei oft als Verteidiger des Historismus mißverstanden. So wurde er etwa von Gianni Vattimo gefeiert und von Autoren wie Karl-Otto Apel kritisiert. Worum geht es Gadamer, wenn er von der Geschichte spricht? Darum, daß wir dabei doch eine überlegene Wahrheit erfahren, die nichts von Willkür an sich hat und die auf anderem Wege nicht zu erreichen ist. Es ist eine Wahrheit, die zwingend und verbindlich ist. Das Muster lieferte hier wiederum die Erfahrung der Kunst: Denn wo liegt denn Willkür in einem gelungenen Gemälde, in einer ergreifenden Inszenierung oder in einem bezaubernden Gedicht? Gibt es nicht auch hier Strenge, Wahrheit, Sachlichkeit, auch wenn von Methode zu reden widersinnig wäre? Das ist die Wahrheit, auf die es Gadamer ankommt und die sich sehr wohl als Richtigkeit charakterisieren läßt. Es ist nämlich klar, daß man man ein Gedicht oder eine Symphonie nicht völlig willkürlich interpretieren (oder lesen) kann. Man muß sich immer der höheren und verpflichtenden Wirklichkeit des Kunstwerkes beugen, obwohl es sie ohne Interpretation oder Verstehen nie gibt. Das Verstehen steht somit im Dienst der Sache, auch wenn sie den Verstehenden immer impliziert. Auf die Herausstellung dieses Dialogs (“Gedicht und Gespräch”) kommt es m. E. Gadamer an. Es gibt keine Interpretation oder Verstehen ohne einen geschichtlich Verstehenden, der sich aber dank dieser Begegnung über die Grenze seiner Geschichtlichkeit ein Stück weit heraushebt. Darauf bestand Gadamer in dem Gespräch, das am Ende des Gadamer-Lesebuches abgedruckt ist (Mohr Siebeck 1997), S. 283: “Das Ziel meiner kritischen Arbeiten zur Ästhetik war also die Befreiung von allem bloßen Historismus. Es scheint mir überzeugend, daß ein Werk der Kunst sich jeder Umformung in eine andere Form der Aussage widersetzt. Als Philosoph verteidigt man also hier eine Art von Erfahrung, die man nicht durch bloße Begriffskunst ersetzen kann. Dieser Sinn von Transzendenz meint also, daß hier jede steigerungsfähige Präzision fehl am Platze ist. Ein Werk der Kunst ist gut oder schlecht, stark oder schwach. Aber das, was man dabei erfährt, ist eine spezifische Gegenwärtigkeit. Das nenne ich hier Transzendenz”. Es geht also Gadamer nicht, wie man oft ment, um eine heillose Vergeschichtlichung des Verstehens (“alles ist historisch”), sondern vielmehr um die Transzendenz, die mitten im Verstehen selbst erfahren wird. Das ist die hermeneutische Wahrheit. Auf sie kommt es Gadamer an: wie läßt sie sich verstehen und rechtfertigen? Das war die Grundfrage seines hermeneutischen Grundbuches. 5. Zu “Gadamer” Ich habe also sehr viel von Gadamer gesprochen. Aber selbstverständlich kommt es nicht auf “seine” Theorie an, auf seine “hermeneutische Methode” an, sondern auf die Wahrheit, die dabei herauskommt und die nur herauskommt, sofern wir sie verstehen. Es kommt also darauf an, daß wir selber mitgehen, daß wir uns selber aufs Spiel setzen. Denn man versteht nur, sofern man sich engagiert. Sie haben also ab jetzt das Wort: 1 Vgl. den Bericht von John Beach über seine Lehrjahre bei Gadamer, im Erscheinen. 2 “Hermeneutische Methode?”, in HGG, Ges. Werke, Band 9, S. 447. 3 GW, Bd. 9., 448. Der Kontext lautet: “Eine andere Einrede ist, daß der Dichter wohl stärker in den Spielen der Worte seine Orientierung genommen habe, als ich wahrhaben will, und daß deswegen mein Verfahren zu phänomenologisch sei (das hat mir J. Bollack vorgehalten). Es wird mir schwer, darin einen kritischen Sinn zu finden. Was soll denn der Gegensatz zu 'phänomenologisch‘ sein? Daß Worte nur Worte sind? Daß man sich bei Worten nichts denken soll?” 4 F. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, hrsg. von Manfred Frank, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1977, 84. 5 Vgl. das Interview mit HGG, im Gadamer-Lesebuch, Mohr Siebeck, Tübingen 1997, 294. 6 Öffentlich auf einer Heidelberger Tagung am 3. 7. 1999. 7 Vgl. SZ, 189: “Das beruhigt-vertraute In-der-Welt-sein ist ein Modus der Unheimlichkeit des Daseins, nicht umgekehrt. Das Un-zuhause muß existenzial-ontologisch als das ursprünglichere Phänomen begriffen werden.” 8 Vgl. I. Kant, Der einzig mögliche Beweisgrund w einer Demonstration des Daseins Gottes (1763), Ak. II, 71. 9 O. Marquard, Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart, Reclam, 1981, 130, u.ö. Gadamer sah aber immer darin eine Verkürzung seiner Intentionen (vgl. WM, 317; GW 2, 233 und das Lesebuch-Gespräch, Tübingen 1997, 282). |