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Oleksiy PanychWladimir Putin, Russland und die DemokratieViele machen Wladimir Putin und sein Umfeld
für Russlands externe Aggressionen verantwortlich. Doch das Problem geht
viel tiefer. Für die westliche Welt war Russlands Aggression
gegen die Ukraine eine unerwartet
böse Überraschung.
Man hätte angenommen, die Menschen im Westen
würden zum Schluss kommen, dass anscheinend etwas mit ihren
Erwartungen an Russlands Verhalten nicht stimmt. Doch
stattdessen versuchten viele das unvorhergesehene
Unheil als "irreguläres" Vorkommnis
zu erklären, das die grundsätzliche
Wahrnehmungen des Westens von Russland
nicht beeinflusst. Diese Leute sehen Russland gerne als grundsätzlich
gutes Land, mit guten Absichten,
bereit für die Demokratie westlicher Prägung, aber manchmal in
Versuchung, die falschen politischen Lösungen zu wählen. Sie machen deshalb Russlands Präsidenten Wladimir Putin und/oder Leute
aus seinem Umfeld für Russlands externe Aggressionen verantwortlich. Doch das Problem geht viel
tiefer – sowohl im Hinblick auf
Russland als auch auf Wladimir
Putin. Es sollte betont werden, dass Weststaatler in den vergangenen
drei Jahrhunderten, wenn sie über
"Russland" sprachen,
faktisch auch über das "Russische Reich" sprachen, obwohl sie dies oft
nicht bemerkten. Und indem sie
das Wort "Russe" benutzten, bezogen sie sich
eigentlich auf alle Staatsangehörigen des Russischen Reichs, ob ethnisch
russisch oder nicht. Die russische
Sprache kennt eine spezifische Unterscheidung zwischen "russkij" und "rossijski", die unmöglich in westliche Sprachen übersetzt werden kann. "Russkij" bezieht sich auf
"russisch" in einem vagen ethnischen
Sinn, während "rossijski" sich auf alles bezieht,
das in der
Vergangenheit politisch zum "Russischen Reich" (Rossijskaja Imperia) oder heute
zur "Russischen Föderation" ("Rossijskaja
Federatsija") gehört. Indem all das in dem
einzelnen Wort "Russland" vermischt wird, bringt der
Westen unabsichtlich das Konzept eines
Reiches – das Russland war und
ist – mit dem eines Nationalstaates
durcheinander – was Russland nie war.
Fälschlicherweise beurteilt
man die Russische
Föderation, tatsächlich
ein einzigartiges "eurasisches Reich", nach den Standards
eines normalen Nationalstaats. Nach der Auflösung der Sowjetunion 1991 gab es eine allgemeine
Übereinkunft, wonach es vollständig ungerechtfertigt war, Ukrainer, Kasachen, Georgier und viele
andere Völker, die unter Stalin
gegen Hitler kämpften, als "vollständige Russen" zu behandeln. Seit
dem Auseinanderbrechen der Union haben
die Ukrainer, Kasachen, Georgier ihre eigenen unabhängigen
Staaten aufgebaut. Doch in welcher
Hinsicht unterscheiden sie sich von
den Tartaren, Tschetschenen, Baschiken, Kalmücken, Tschuwaschen, Burjaten, Tscherkessen, Awaren und Jakuten,
die weiterhin ein Teil der
heutigen Russischen Föderation sind? Sie sind nicht
"russischer" als die Ukrainer und
Kasachen bis 1991. Das führt zur Frage der
Demokratie. Demokratie kann nur dann
wirksam funktionieren, wenn die Mehrheit
der Bürger eine Reihe von
Grundwerten und Grundhaltungen teilt, entweder ungeschrieben oder in einer
Verfassung formalisiert. Die Demokratie kann nicht gut
funktionieren, wenn die Wählerinteressen bei entscheidenden Problemen widersprüchlich und wechselseitig unvereinbar sind. Jedes Mal, wenn Russland deshalb
in der Vergangenheit
näher an "mehr Demokratie" rückte, erreichte es gleichzeitig die nächste Phase des Auseinanderbrechens
seiner imperialen Struktur: nehmen Sie die Unabhängigkeit
Polens, Finnlands und der baltischen
Staaten 1917-1918 und die Auflösung der Sowjetunion in 15 unabhängige Staaten 1991. Die weitere Demokratisierung unter Präsident Boris Jelzin führte
gegen Ende der Neunziger Jahre
zu einer ernsthaften Handhabbarkeitskrise in dem, was
von der von
Russland dominierten Sowjetunion übrig war. Es muss Präsident Putins angerechnet werden, dass er diese
Situation viel besser als seine
westlichen Amtskollegen verstand. Er sah
und erklärte sogar öffentlich, dass einige Republiken
innerhalb der Russischen Föderation nur deshalb darin
blieben, weil sie dazu gezwungen
wurden. Sollte also "Russland" seine Teilrepublik Tschetschenien gehen lassen, würde es bald im
gesamten Nordkaukasus und östlich der Wolga kein
"Russland" geben
(siehe Putins Buch "First person" von 2000). Eine Weiterführung der "demokratischen" Strategie Boris Jelzins würde zu einer weiteren
Auflösung der Föderation führen, und das früher,
als irgendjemand erwarten würde. Die einzige Alternative für einen rationalen Anführer, der die Russische Föderation
bewahren will, ist eine offensive
Strategie im Ausland und eine
undemokratische zu Hause. Präsident Putin befolgt diese
Vorgehensweise von Anfang an. Sie
bedeutet eine ständige Aggression an den Grenzen
des Reichs und erzwingt die
Einheit innerhalb, mit nur geringen
Überbleibseln einer
"kontrollierten Demokratie". In diesem Kontext sollte Russlands Aggression gegen die Ukraine
keine Überraschung gewesen sein. Das
sind aber nicht die einzigen
schlechten Nachrichten. Im Gegensatz zu seinen westlichen
Amtskollegen nimmt Wladimir Putin die Weltpolitik als "Nullsummenspiel" wahr: In Konfliktsituationen
kann nur eine Seite gewinnen,
die andere muss verlieren. Eine Mehrheit der
russischen Bürger teilt diese Ansicht.
Wieder ist die Erklärung, dass ihre Interessen
innerhalb der Russischen Föderation zu weit auseinanderklaffen
für Win-Win-Lösungen: Extrem
reich gegen extrem arm; ländlich
gegen städtisch; der Norden gegen
den kaukasischen Süden, der europäische Westen gegen den asiatischen
Osten. Durch Geschichte und Kultur sind die
Russen daran gewöhnt, "sich an den Stärkeren
zu halten": Statt gesellschaftlicher Kompromisse, die aus einem demokratischen
Prozess des Gebens und Nehmens
resultierten, werden die Lösungen von oben auferlegt;
dies führt zu vielen Verlierern,
denen nichts übrig bleibt, außer zu akzeptieren, was ihnen aufgezwungen worden ist. Das ist die Wurzel der
"russischen imperialistischen
Psychologie". Die einzige Chance für die Anführer
eines Reichs, die Mehrheit der
Bevölkerung zu vereinen besteht darin, sie gegen
einen gemeinsamen Feind zu vereinen,
gegen den ein "Nullsummenspiel" gespielt werden kann. Wenn in
Russland eine wirkliche Demokratie existieren und den Menschen keine
Angst vor einem "gemeinsamen Feind" gemacht werden würde, würden viele von ihnen eher
ihre regionalen Herrscher unterstützen, und sich völlig
auf regionale Interessen konzentrieren. Das würde dazu führen, dass sich die
russische Föderation bald in mehrere,
überschaubarere Einheiten
aufteilen würde, in denen die
Bürger genügend gemeinsame Werte und Interessen für einen konstruktiven Staatsaufbau teilen. Solange die Föderation besteht, werden ihre Bürger
sich in unvermeidlichen
"imperialistischen" Kriegen
verwickelt finden. Der Rest der Welt hat
die Wahl, entweder die Russische
Föderation in ihren derzeitigen geographischen Grenzen aufrechtzuerhalten – mit der Folge einer
repressiven Innenpolitik und einer aggressiven
Außenpolitik – oder ihre Auflösung zu beschleunigen; letzteres wird gewisse Risiken mit sich bringen,
gleichzeitig aber die Ursache für
die ständige Aggressivität entfernen. Diese Entscheidung ist zwar sehr
schwierig, sie kann aber nicht
vermieden werden. Der Autor Oleksiy Panych ist ehemaliger
Philosophie-Professor am Lehrstuhl
für Kulturwissenschaften
an der Nationalen
Universität Donezk. http://www.euractiv.de/sections/ukraine-und-eu/wladimir-putin-russland-und-die-demokratie-314198
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