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Taras WozniakGalizien heuteDer 'österreichische' Mythos und nationale Galizien-Mythen Beim Wort „Galizien" kommen
den meisten Ukrainern, Polen oder Juden der alte 'österreichische'
„Mythos Galizien" und die damit verbundenen Namen und Ereignisse wie
Maria Theresia, Franz Joseph, die Revolution von 1848, La Belle Époque in Lemberg, die Errichtung der
Universität und der Technischen Universität, der Oper sowie des
Hauptbahnhofs oder der Kirche der Heilige Elisabeth in den Sinn. Natürlich
wird dieser Mythos von den jeweiligen Nationen um eigene Interpretationen
ergänzt. Die Polen betonen zu Recht, aber
auch mit einer gewissen Übertreibung die Rolle von Krakau als Wiege des
Polentums und betrachten Lemberg als Königsstadt. Damit knüpfen sie
an den polnischen König Kasimir den Großen an. Bei den Ukrainern tritt zwar
ebenfalls zu Recht, aber im Sinne einer Antwort auf die polnische Sichtweise
die „fürstliche Stadt Lwiw" in den Vordergrund. Bis heute bereitet
ihnen die Titulatur für die Halytscher oder
galizischen Herrscher Probleme - dieselben werden einmal als Fürsten und
dann wieder als Könige bezeichnet, ganz abgesehen von jungen ungarischen
Königssöhnen, die noch den Thron von Halytsch
bestiegen. Ein Laie kennt sich schlussendlich nicht mehr aus, wann welche Herrscher,
wie ein Daniel, ein Lew, ein Koloman oder ein Kasimir, regierten. Für die Juden wiederum spielen berühmte Zaddiken
bei der Bildung ihrer galizischen Identität eine wichtige Rolle sowie
viele andere mehrsprachige Schriftsteller - angefangen bei Scholem Alejchem (Salomon Rabinowitsch,
1859-1916), der auf Jiddisch schrieb, über den deutschsprachigen Joseph
Roth (Moses Joseph Roth, 1894-1939) und den polnischsprachigen
Bruno Schulz (1892-1942) bis zum großen Meister der hebräischen
Sprache, Samuel Josef Agnon (Samuel Josef Halevi Czaczkes,
1888-1970). Identitätsstiftend wirkte wohl auch die Herkunft der Familien
von Sigmund Freud (1856-1939) und Karl Marx (Karl Heinrich Marx, 1818-1883). Dadurch entstehen aus dem alten 'österreichischen'
„Mythos Galizien" drei getrennte mythologische Narrationen. Sie fügen
sich zu großen Nationalmythen zusammen. Zudem bricht gerade das 20.
Jahrhundert, ein Jahrhundert der Nationalismen, an. Dies bedeutet auch das
Erwachen der einzelnen Nationen, das oft folgenschwer ist und unzählige
Opfer und nationale Tragödien nach sich zieht. Dazu kommen große
soziale Utopien auf: Sozialismus, Kommunismus und Nationalsozialismus, die,
gepaart mit den auflebenden Nationalismen, die Lage erschweren. Diese
utopischen Strömungen werden für die Vernichtung ganzer Teile der
galizischen Bevölkerung verantwortlich sein. Das NS-Regime vernichtet das
spezifische galizische jüdische Leben völlig. Nur einige wenige
bleiben innerhalb der neuen Grenzen am Leben, sowohl in der Sowjetunion als
auch in der Volksrepublik Polen. Selbst wenn das „sowjetische Galizien"
von einer bestimmten Anzahl an Juden wieder besiedelt wird, zuerst in vier,
dann in drei Bezirken (Lemberg, Drohobytsch,
Iwano-Frankiwsk, Ternopil), so handelt es sich doch um ganz andere Menschen, die
aus anderen Regionen stammen, und vor allem um sogenannte Sowjetmenschen. Der polnisch-ukrainische
ethnische Konflikt, der als Krieg (1943-1945) bezeichnet werden kann, sowie der 'Bevölkerungsaustausch' zwischen der
Sowjetunion und der Volksrepublik tilgen nahezu alle Spuren des ehemals
blühenden polnischen Lebens im östlichen Teil des 'guten alten'
Galizien. Der Habsburger-Mythos führt lange Zeit ein Schattendasein, fast
während der gesamten „Sowjetzeit". In dieser gibt es einen Zustrom neuer Menschen nach Galizien: Russen aus
Zentralrussland und Ostukrainer. Ethnisch gesehen sind Anfang der 1950er-Jahre
die meisten Bewohnerinnen und Bewohner Lembergs Russen. Erst Anfang der
l960er-Jahre kehren Westukrainer in die galizischen Städte zurück.
Die Städte bekommen einen deutlich ukrainischen Charakter - die
Rückkehrer haben stalinistische Lager, Verbannung, Aussiedlungen, Umsiedlungen,
verschiedene Arten von Deportation überlebt. Gegen Ende der 1970er-Jahre
nimmt schließlich das ukrainische Galizien die Gestalt von heute an.
Nicht einmal der Zerfall der Sowjetunion führt eine erhebliche
Änderung der Bevölkerungsstruktur herbei. Die ukrainische Galizien-Narration All dies spiegelt jedoch nicht
wider, was man sich unter dem damaligen und dem heutigen ukrainischen Galizien
vorstellen kann. Es handelt sich um die ukrainische Narration über
Galizien - hier verzichte ich absichtlich auf das Wort „Gebiet", denn die
ukrainische Narration hat keine so deutlichen Grenzen wie die polnische oder
die jüdische Narration, die dasselbe Gebiet umfasst. Diese bedient sich bei der Suche
nach ihren 'Wurzeln' einer wohl virtuellen Vergangenheit, nämlich der
fürstlichen, königlichen und kosakischen.
Die gegenwärtige ukrainische Narration über Galizien entsteht mit dem
Erwachen des ukrainischen Nationalgefühls. In diesem Zusammenhang sind die
Namen Markij Schachkewytsch
und Iwan Franko zu nennen. Da es zur Sowjetzeit in der
Ukraine nicht möglich war, ein ukrainisches Kulturleben aufzubauen,
entsteht im östlichen Galizien, das Teil des österreichisch-ungarischen Imperiums war, der erste „Mythos des ukrainischen galizischen
Piemont". Es ist auch die Wiedergeburt der ukrainischen Nation.
Gewissermaßen wird dieser Mythos wahr: Er beginnt sich jedoch erst Anfang
des 20. Jahr-hunderts herauszukristallisieren, und er beinhaltet Mythen der
ukrainischen Unabhängigkeitskämpfe um die Westukrainische Volksrepublik in den Jahren
1919 bis 1923, der Ukrainischen Sitsch-Schützen und des
Waffenaufstands in Lemberg am 1. November 1918 (als ukrainische Einheiten der
k. u. k. Armee die Macht übernahmen). Danach, auch wenn es nicht auf ungeteilte Zustimmung stößt, sind in der
ukrainischen Narration über Galizien der ukrainische nationalistische Mythos und dessen Beitrag
zum Kampf um eine unabhängige Ukraine stark präsent. Die blau-gelbe Nationalfahne wird eindeutig von der
schwarzroten Revolutionsfahne begleitet. Zweifelsohne
handelt es sich hier um die ukrainische Narration, die mit der polnischen in
Konflikt steht. Im Fall der polnischen Narration lässt sich kaum sagen,
dass diese auf Galizien bezogen oder durch eine erkennbare 'galizische'
Strömung charakterisiert ist. Im Gegensatz dazu entstand gerade in der
Ukraine eine 'galizische' Strömung der ukrainischen Narration. und diese
nahm eine ausgeprägte Gestalt an. Genau diese Strömung formte das
heutige Galizien, das bereits seit 23 Jahren in der unabhängigen Ukraine
liegt. Viele
Beobachterinnen und Beobachter von außen nehmen diese Besonderheit nicht
wahr, obwohl das heutige ukrainische Galizien (vielleicht teilweise mit dem
benachbarten Wolhynien und der benachbarten Bukowina) ein klares Bild der
Ukraine und Galiziens, einen der Grundsteine der künftigen freien
Ukraine, kreierte. Dies geschah in der Konfrontation mit dem Polen der Zwischenkriegszeit und mit dem stalinistischen Regime in
der Sowjetunion. Dieses klare Bild grenzt zum Teil an den Mythos, hat jedoch
größtenteils ein fest gemauertes Fundament. Das
Bewusstsein und die Mentalität der galizischen Ukrainer nahmen Anfang des 20. Jahrhunderts eine deutliche
Form an. Bei den galizischen Ruthenen kam es nicht nur zum sanften Erwachen des
Nationalgefühls, sondern primär zum Herauskristallisieren der
nationalen Identität. Zweifelsohne trug die ukrainische Niederlage im
Kampf um die Unabhängigkeit in den 1920er-Jahren dazu bei. Diese Niederlage wurde zuerst von den galizischen Ukrainern
als nationale Tragödie empfunden, dann wurde sie jedoch in einen
Mobilisierungsfaktor umgewandelt. Bis zu einem gewissen Grad war die
ukrainische Narration ein Spiegelbild der gleichen polnischen Narration aus der
Zwischenkriegszeit. Die galizischen Ukrainer gingen dabei in den meisten
Bereichen gleich wie die Polen und Tschechen vor, sei es bei Institutionen
oder in der Rhetorik. Während der Zwischenkriegszeit beherrschte ein
polnisch-ukrainischer Kampf den Alltag in Galizien, sowohl
offen als auch latent geführt. Gleichzeitig gab es allerdings sehr wohl
auch ein gemeinsames Leben. Der bereits erwähnte Mobilisierungsprozess
und der endgültige Wandel der galizischen Ruthenen in Ukrainer gipfelten in einer nationalistischen Bewegung und den Freiheitskämpfen
der 1940er- und 1950er-Jahre.
Dieser Bewegung kann man viele Fehler und sogar Verbrechen vorwerfen. Das
ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass gerade sie die Herausbildung
einer äußerst klaren galizischen Form der ukrainischen
Identität beeinflusste. Nicht einmal die stalinistischen Repressionen
konnten diese Bewegung brechen. Und das ist keine bloße Metapher, sondern
ein Faktum. So
entstand der zweite „Mythos des ukrainischen galizischen Piemont". Die Einwohnerinnen und Einwohner Galiziens und
Wolhyniens waren und bleiben auch heute das wichtigste Reservoir für die
Mobilisierung in der nationalen 'Rückeroberung', in der Orangen
Revolution von 2004 sowie auf dem Euromaidan um die Jahreswende
2013/14. Die Bedeutung Galiziens im 20. Jahrhundert Ohne
einen Einblick in die galizische Geschichte sowie die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist es sowohl
für die Ukraine als auch für Galizien selbst kaum nachvollziehbar,
was Galizien heute ist. An dieser Stelle halte ich es für unabdingbar,
noch einmal zu betonen, dass die Geschichte Galiziens im 20. Jahrhundert aus der ukrainischen Perspektive
nicht bei allen auf Gegenliebe stoßen wird. Wir sprechen hier jedoch
nicht von 'Fakten', sondern von Narrationen. Aber darum geht es nicht. Genauso
wenig geht es um die Tatsache, wer in der ganzen Geschichte 'recht hatte'. Denn
es geht hier um die Entstehungsgeschichte der galizischen Narration, die
für Jahrzehnte viele Ereignisse vorprogrammierte, die erst nach ihrer
Entstehung erfolgten. Es besteht kein Zweifel: Die gegenwärtige
galizische Narration wird die Entwicklung des heutigen Galizien bestimmen und
sogar die Entwicklung der gesamten Ukraine über längere Zeit
maßgeblich beeinflussen. Und auch diesmal wird es so sein, ganz
unabhängig davon, ob es jemandem gefällt oder nicht. Die unabhängig
gewordene Ukraine zeichnete
sich durch Vielfalt aus. In mancher Hinsicht gemahnte sie an
das Polen der Zwischenkriegszeit
- vielleicht mit Ausnahme der Minderheiten, denn diese sind
in der Ukraine nicht so bevölkerungsstark.
Im damaligen Polen kannte man wiederum das Phänomen einer zahlenmäßig starken nicht polnischsprachigen,
jedoch ethnisch polnischen Bevölkerung nicht. Galizien war eines der Zentren, von denen Impulse ausgingen, die schließlich
die Sowjetunion zu Fall brachten. Selbstverständlich soll die Bedeutung Galiziens nicht
überschätzt werden. Die Sowjetunion zerfiel aus wichtigeren
Gründen, wie etwa der Wirtschaftskrise oder mangelnder
Wettbewerbsfähigkeit. Die stärksten Risse bekam die UdSSR allerdings
in einigen wenigen Regionen des Riesenstaates: in Moskau (heute mag es seltsam
anmuten), den baltische Ländern (Litauen, Lettland und Estland) sowie
Galizien und dem Kaukasus. Der überwiegende Teil der Ukraine schlief.
Gemeinsam mit Galizien und teilweise mit Wolhynien heizte Kiew die Stimmung
auf. Danach verlagerte sich das Epizentrum nach Kiew, jedoch mit reger
Beteiligung der Galizier. Zu dieser Zeit entsteht das
Rückgrat der heutigen unabhängigen Ukraine, das auf dem Bündnis
zwischen Kiew und Galizien fußt. An dieser Stelle wäre eine
Galizien- Euphorie jedoch unangebracht - auch andere Regionen trugen
maßgeblich zur Entstehung des Ukrainertums in
der freien Ukraine bei. Denn die Ukraine blieb noch lange ein postsowjetisches
territoriales Gebilde. Nichtsdestotrotz verstärkte sich die Allianz
zwischen Kiew und Lemberg von Jahr zu Jahr. Um 1990 machte sich in Galizien
eine starke nationaldemokratische Begeisterung breit. Gerade die demokratische
Komponente dieser Massenbewegungen soll hervorgehoben werden. Noch vor dem
Zerfall der Sowjetunion begann man zuerst in Galizien, Volksvertreterinnen und
Volksvertreter auf verschiedenen Machtebenen zu wählen: Kreis- und
Stadträte, Landräte, Exekutivkomitees. Danach bildeten die
demokratisch gewählten Kreisräte dreier kreise Galiziens - Lemberg,
Iwano-Frankiwsk und Ternopil - das galizische Parlament, eine Art regionalen Landtag.
Bis zu einem gewissen Grad erinnerte dies an die Entstellung de|
Westukrainischen Volksrepublik. Kreisräte anderer Westgebiete, die nicht
zu Galizien gehörten, waren bereit, der Allianz beizutreten. Diese
Entwicklung versetzte sowohl die Marionettenregierung in Kiew als auch die
zentralen Staatsorgane in Moskau in Angst. Auf diese Weise schuf Galizien am
Vortag seiner Unabhängigkeit den drillen „Mythos des ukrainischen
galizischen Piemont". Nachdem die Ukraine die Unabhängigkeit
erlangt hatte, verlagerte sich schlagartig das Zentrum des politischen Lebens
nach Kiew. Dort wurden auch die Entscheidungen getroffen. Galizien wurde
weitgehend zur Provinz degradiert. Unter den beiden Präsidenten Leonid
Kutschma und Leonid Krawtschuk gingen ehemalige staatliche Großbesitze in
private Hände über. So entstanden erste unvorstellbar große
Vermögen. Galizien stand sowohl aufgrund seiner Wirtschaftsstruktur als auch der
Mentalität im Abseits. Ähnlich
verhielt es sich mit der Politik: Es nahm nicht besonders aktiv am politischen Leben des Landes teil. Die sechs Millionen
Einwohnerinnen und Einwohner Galiziens stellten eine Minderheit in der Ukraine
mit ihrem insgesamt 48 Millionen
Menschen dar. Im
Endeffekt entstand bis zum Jahr 2000 in der Ukraine ein oligarchischer Staat,
der von Oligarchen-Familien mit dem Präsidenten Leonid Krawtschuk an der
Spitze regiert wurde. Zu dieser Zeit etablierte sich auch die Mittelschicht.
Ihre Hauptstützpunkte waren - wieder einmal – Galizien, Wolhynien, die Bukowina
und Kiew. Der Konflikt der Oligarchen mit der Mittelschicht eskalierte in der
Orangen Revolution 2004. Galizien spielte dabei keine geringe Rolle und dies nicht nur in Kiew,
sondern auch im 'Hinterland': In Lemberg, Iwano-Frankiwsk und Ternopil - genau
dort befand sich der Stützpunkt des orangen Maidan
2004. Nur war
das Ende dieser Revolution bekanntlich enttäuschend, und die Enttäuschung
brachte eine Gegenrevolution hervor, welche die Ukraine vier Jahre lang
lahmlegte. Für vier Jahre machte sich Frustration breit, und genauso wie
in den 1930er-Jahren verwandelte sie sich zusehends in einen entschiedenen
Widerstand gegen das Regime. Vom Frühjahr bis zum Herbst 2013 wurden nahezu überall
lokale, halb geheime Vereinigungen gegründet. Es wurde lebhaft
darüber diskutiert, 'was man tun soll'. Man spürte erneut Widerstand.
Und in der Tat war es dieselbe galizische Narration, die erneut auflebte. Die
mythologische Natur dieser Narration brachte nicht nur Gutes hervor. Sie war
auch Brutstätte vieler krasser Ideen - so wurde unter anderem versucht,
nationalistische Umtriebe
der 1930er-Jahre im heutigen Galizien zu reaktivieren. Teilweise kam dies
denjenigen Demagogen bei Wahlen zugute, die sich in der Manier der 1930er-Jahre stilisierten. Fruchtbar
war jedoch allein der Protestdiskurs, der gegen Ende November 2013
eskalierte, als sich der damalige
ukrainische Präsident Janukowytsch
weigerte, das Assoziierungsabkommen
mit der Europäischen Union zu unterzeichnen. Anfangs war das ein studentischer Protest an dem viele Studierende aus
Galizien teilnahmen, obgleich sie keine
Mehrheit bildeten. Bereits diese Protestwelle lässt sich als Euromaidan
bezeichnen. Nachdem die Proteste brutal niedergeschlagen
worden waren, lehnte sich der Großteil der Bevölkerung auf: zuerst in
Kiew und Galizien mit Wolhynien. Die Stütze der unabhängigen Ukraine
erhob sich gegen das Regime und wurde zum Beginn eines Maidan der Ehre, der sich in die
ukrainische nationale Revolution verwandelte. Und wieder bildete Galizien in
den schwersten Stunden der Erhebung die Basis der Revolution. Der orange Maidan 2004 und der Maidan 2014 ließen den vierten „Mythos des
ukrainischen galizischen Piemont" entstehen - den eines starken
Hinterlands für den ukrainischen Staat. Mvthos und Realität Sind aber all diese Mythen nur
reine Mythen? Nein, ganz und gar nicht. Es stimmt, dass in den Mythen viel
Übertreibung steckt. Nicht alles stimmt mit den Fakten überein. und
sie enthalten viele wertende oder gar emotionale Elemente. Manchmal treten
galizischer Snobismus und Verherrlichung verstärkt zutage. Die Galizier und das Galizische werden sogar dämonisiert -
schlaue politische Manipulation aus Moskau versetzt auf diese Art und Weise die
Einwohnerinnen und Einwohner der südöstlichen Ukraine in Angst und
Schrecken. Dies gelingt sogar häufig - die Galizier
werden nicht nur als „schrecklich", .proamerikanisch" und
„proeuropäisch" dargestellt, sondern auch als unglaublich starke
Kerle, „die kommen und etwas Furchtbares anrichten werden. Deshalb muss man
sich vor ihnen retten". So gestaltete sich die demagogische Rhetorik
Putins, als Russland die Halbinsel Krim annektierte. Sogar in seiner Rede, die
er anlässlich des 'Beitritts' der Krim in die Russische Föderation im
Georgssaal des Kreml hielt, ließ eres sich nicht nehmen, die Galizier
in Erinnerung zu rufen: Er malte sie als schreckliche ukrainische
Nationalistinnen und Nationalisten vom Format des Stepan Bandera
an die Wand, denen er die Krim nicht zurückgeben würde. Nicht ausgeschlossen,
dass diese Äußerung die Apotheose des galizischen Rufs schlechthin
war im letzten Augenblick rettete der „Zar aller Reußen" die Krim.
Dieses Ereignis, diese 'Laune der Geschichte' lässt sich auch mit Ironie
betrachten. Es ist jedoch - unabhängig von allen bewussten Manipulationen
Putins - ein Indiz dafür, dass sich die ukrainische Narration über
Galizien weder als ein hinter verschlossenen Türen ausgehecktes Konsirukt noch als Erfindung zwergenhafter galizischer
Snobs entpuppt, vielmehr als eine unerwartet wirksame Waffe, die im reellen
Leben äußerst gut funktioniert. Die moderne
ukrainische Narration über Galizien lässt sich nicht auf die Narodniki-Bewegung des 19. Jahrhunderts reduzieren, obwohl
sie darin ihren Ursprung hat. Sie lässt sich genauso wenig auf den
Nationalismus des 19. Jahrhunderts reduzieren, obgleich dieser zu
ihrer Entstehung wesentlich beitrug. Die moderne ukrainische Narration über Galizien ist heute
außerordentlich lebendig. Sie eignet sich neue demokratische und fast
kosmopolitische Formen an. Es gibt jedoch nach wie vor politische Spekulanten,
die alte und bereits angestaubte nationalistische Strömungen bedienen. Als
die attraktivste Eigenschaft des gegenwärtigen Galizien gilt die Tatsache,
dass hier - wie in einem Schmelztiegel - die modernste, oder anders gesagt
postmoderne ukrainische galizische Identität entsteht. Sie wird als 'ukrainisch-galizisch'
betrachtet, da sie tatsächlich sowohl ukrainisch als auch galizisch ist. Was das 'Galizische' in Galizien
anbelangt, unterscheidet es sich zweifelsohne von anderen Regionen, in denen
eigene, interessante Identitäten hervortreten. Als Beispiel können
hier solche Regionen wie die Karpatenukraine oder die Bukowina dienen.
Einerseits rivalisieren diese Identitäten miteinander, andererseits
ergänzen sie sich. In der vorliegenden Darstellung wurden ganz allgemeine
Tendenzen aufgezeigt. Man kann sie weiterentwickeln, auf weitere politische
oder gesellschaftliche Faktoren hinweisen - so wie es hier der Fall ist. Äußerst interessant
erscheinen kulturelle und geistige Faktoren. In Bezug auf das
Religionsbekenntnis bildet Galizien ein getrenntes Gebiet: Die meisten
Gläubigen gehören der ukrainischen griechisch-katholischen Kirche
an. Die wirkliche und rituelle Religiosität der Bevölkerung ist hier
um vieles größer als in den anderen Regionen der Ukraine. Genauso
verhält es sich mit der geistigen und religiösen Weltoffenheit der Galizier auch anderen Religionen gegenüber, die ihren
Ursprung in der Tradition ebenso wie in Institutionen hat, etwa in der
ukrainischen katholischen Universität. Was die erwähnten
kulturellen Faktoren betrifft, galt zweifelsohne das Galizische als stilistische
Tendenz der letzten zehn Jahre. In Lemberg, Iwano-Frankiwsk und Ternopü wird alles, was als galizisch gilt,
kultiviert. Sogar in der Stadt Czernowitz. die einst,
in der sagenumwobenen Habsburgermonarchie, ein Teil Galiziens war, wird man
daran erinnert - zumindest in Form von Kaffeehausinterieur. Neben der galizischen Courtoisie- und Kaffeehausmode trat eine ernsthaftere
Tendenz hervor, nämlich die Rekonstruktion des „märchenhaften und
österreichischen Galiziens", wobei Galizien hier sowohl gegen Lemberg, Kolomyja, Drohobytsch oder auch Bolechiw ausgetauscht werden kann. Das kulturelle Erbe Galiziens Galizien wurde wie ein Fisch ausgenommen, und das kann man
bekanntlich nicht überleben. Der
brutale Vergleich wird deshalb
bewusst gezogen, weil es sonst kaum möglich ist, all das, was mit dem von vielen Völkern, Kulturen
und Religionen bewohnten Gebiet im
grausamen 20.Jahrhundert geschah,
zu beschreiben. Es wurde in der Tat um sein Wesen gebracht - um seine Schönheit und Originalität. Und das war ein gewaltiges Trauma, ganz abgesehen davon, was so manche Patrioten in dieser oder jener
Gruppierung davon halten. Siebzig
Jahre danach schmerzt dieses Trauma nicht mehr ganz so stark. Diejenigen, die
es noch erlebt haben, sind nicht mehr unter uns. Von dem Schock zeugen heute
einzig ihre Texte, wie jene von Stanislaw Lern (1921-2006), Zbigniew Herbert (1924-1998), Paul Celan (Paul Ancel, 1920-1970) und Rose Ausländer (Rose Beatrice Scherzer, 1901-1988), aber auch jene von Jurij Andruchowytsch
und Jurij Wynnytschuk. Die
heutigen Bürgerinnen und Bürger von Lemberg,
Iwano-Frankiwsk/Stanislau und Drohobytsch begreifen
allmählich, dass in den architektonischen Räumen, in denen sie
geboren wurden und ihr ganzes Leben verbracht haben, gewisse Leerräume,
Nischen und Synkopen existieren. Sie verstehen, dass dort noch ein .Anderer'
fehlt und dass die Konturen des .Anderen' schrittweise immer blasser wurden,
indem seine Existenz verschwiegen wurde oder aber aus reinem Unwissen. In
einer ruhigeren Zeit, wenn der Schmerz aufgrund der Deportationen, Repressionen
und Verfolgungen nachgelassen hat, gibt es auch mehr Interesse, sich dieser
Materie anzunehmen und mittels Kreide an eine Wand oder auf einen Fußboden
die Konturen der besagten 'verschwiegenen Gestalt' zu zeichnen, die immer in
der Nähe war. Nun ist
es an der Zeit, diese poetischen Überlegungen abzuschließen. In der
ukrainischen galizischen Gesellschaft entstand und entwickelte sich das
Problem der Rekonstruktion der gesamten kulturellen Landschaft Galiziens, und
dies auch in ihren lokalen Ausprägungen. Die Vergangenheit mit der
polnischen, deutschen, jüdischen und tschechischen Bevölkerung
lässt sich nicht mehr wiederherstellen. Es muss jedoch jemanden geben, der
das kulturelle Erbe Galiziens weiterpflegt. Nur stellt sich die Frage, wer
diese Aufgabe übernahmen kann. Im heutigen Galizien leben nur die heutigen Bewohnerinnen und Bewohner
von Lemberg, Ternopil und Kolomyja. Deshalb
fällt die Antwort auf diese Frage eindeutig aus: Für das
kulturelle jüdische, polnische und österreichische Erbe in Galizien
sind in erster Linie alle Ukrainer verantwortlich. Sicherlich gibt es kleine Gemeinschaften
und nationale Vereine. Nur geht solch eine Aufgabe über ihre Möglichkeiten
hinaus. Zudem benötigen gerade die heutigen Galizier
dieses Erbe. Deswegen kann in den letzten Jahrzehnten in Galizien ein Prozess
der Bewusstwerdung beobachtet werden, in dem die Bevölkerung die eigene
Verantwortung nicht nur für das ukrainische, sondern auch für das
jüdische und polnische Galizien zu tragen hat. So verantwortungsvoll können nur Menschen
handeln, die keine Angst mehr haben, das zu verlieren, was ihnen 'gehört',
also freie Menschen. In diesem Sinne stehen dem gegenwärtigen Galizien
große Möglichkeiten offen. Dabei geht es nicht nur um Möglichkeiten
retrospektiver Art. Das 'rekonstruierte Galizien' findet in der neuen galizischen
Kultur seinen Niederschlag. An dieser Stelle seien Namen wie Taras Prochasko, Jurij Andruchowytsch,
Jurij Wynnytschuk und Ostap Śliwiński
erwähnt, genauso wie hervorragende Übersetzer wie Andrij Pawlyschin und Jurko Prochaśko, um nur einige zu nennen. Sie alle entfalten
die gegenwärtige Kultur Galiziens im Kontext ihrer Rekonstruktion. Auch
die unabhängige kulturwissenschaftliche
Zeitschrift Ji versucht seit fünf Jahren,
einen Beitrag dazu zu leisten. Nach den Skandalen um Bruno Schulz beteiligen
sich tatsächlich alle am Wiederaufbau des alten Hauses Galizien. Taras Wozniak (Lwiw), ukrainischer Kultur- und Politikwissenschaftler. Gründer und
Herausgeber der unabhängigen Vierteljahresschrift Ji. Wozniak
knüpfte Kontakte zu der Gruppe jener Intellektuellen, die in den 1980er-Jahren
in Lwiw wirkten. Organisation der Herausgabe illegaler kulturwissenschaftlicher
Schriften; Herausgabe der Werke von Bruno Schulz. Ab 1987 Vorbereitungen zur
Herausgabe einer unabhängigen kulturwissenschaftlichen
Zeitschrift, das erste Heft erschien 1989 unter Wozniaks
Leitung. Anschließend Leitung der Zeitschrift, die den Menschenrechten,
der multikulturellen Kultur, der Globalisierung etc. gewidmet ist. Sie
beschäftigt sich auch mit Künstlern und Schriftstellern, die eine
wichtige Rolle in Galizien spielten, wie der Schriftsteller Bruno Schulz, der
Bildhauer Johann Georg Pinzel und der Maler Zygmunt
Haupt.
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