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Jaroslav Hrytsak

Die glückliche Oma Österreich

„Die glückliche Oma Österreich-Ungarn und ihr Vermächtnis: 150 Jahre später“ – hierüber diskutierten im Rahmen des Lemberger Buchforums im Saal der Wissenschaftlichen Bibliothek der Lemberger Iwan-Franko-Universität unter Leitung von deren Direktor Wassyl Kmet: Jaroslav Hrytsak, Professor an der Lemberger Katholischen Universität, Marjan Mudryj, stellvertretender Dekan der Historischen Fakultät der Lemberger Iwan-Franko-Universität und die Autoren des Buches „Wurzel und Krone. Essays zu Österreich-Ungarn: das Geschick des Imperiums“, nämlich die Leiter des Russischen Dienstes von „Radio Liberty“ Jaroslaw Schimau und Andrej Schary (Prag). Wir geben hier die Erwiderungen von Professor Jaroslav Hrytsak wieder, der versprach, das Thema in kommenden Publikationen fortzusetzen.

 

Über die Gründe für den Mythos vom „glücklichen Österreich“

Es gibt da so einen polnischen Forscher, Tomasz Zarycki, der sich mit politischer Geographie beschäftigt. Ende der 1990er Jahre veröffentlichte er eine Untersuchung, in der er verglich, wie die Menschen in Polen, Litauen, Tschechien, Slowakei, Ungarn und der Ukraine wählen. Für diesen gesamten Raum hob er eine historische Region hervor, die, obwohl sie heute durch Staatsgrenzen geteilt wird, weiterhin gewisse gemeinsame Wählermerkmale beibehält. Diese Region ist das ehemalige österreichische Galizien. Er belegte, dass man im Fall von Galizien am meisten wünscht, die aktuellen Grenzen des 21. Jahrhunderts zu vergessen, und stattdessen zu den Grenzen des 19. Jahrhunderts zurückzukehren.

Galizien selbst ist ein rein habsburgisches Konstrukt. Der amerikanische Historiker Larry Wolff belegt dies überzeugend in seinem bekannten Buch „Die Idee von Galizien“. Das reichlich junge Konstrukt tauchte erst vor 200 Jahren auf, ist aber gleichzeitig sehr lebensfähig, vielleicht das erfolgreichste. Seit jener Zeit, als die Verwaltungseinheit Galizien selber im Jahre 1918 aufgegeben wurde, haben alle hier anschließend herrschenden Regime es eisern zum Schweigen gebracht oder sogar mit einem Tabu belegt. In Polen wurden diese Räume Małopolska Wschodnia, also östliches Kleinpolen, in der Sowjetunion Westukraine genannt. Und plötzlich, mit dem Zusammenbruch des Kommunismus, nach Jahrzehnten des Schweigens, taucht von all den vielen anderen Konstrukten auf der Welt dieses am meisten tabuisierte, dieses von den Habsburgern geschaffene Galizien auf.

Was ist das Geheimnis ihres Überlebens? Ich glaube nicht, dass das Österreichische Reich so gut, erfolgreich oder tolerant war, wie es Joseph Roth es später beschrieb - das alles ist ein völliger Mythos. Allerdings war Österreich für die Ukrainer definitiv besser als alles, was danach kam. Es waren Zeiten, als „es Sibirien noch nicht gab". Im Gegenteil, Galizien war selber so ein „Sibirien“ für österreichische Offiziere oder Bürokraten, die man für irgendwelche Verfehlungen hierher schickte.

Darüber hinaus war die Zugehörigkeit zum Habsburger Raum das Eintrittsbillet für die europäische Integration. Das ist die Grundlage zu behaupten, dass wir schon dazugehörten, und deshalb das volle Recht haben, auch jetzt zu Europa zu gehören. Österreich-Ungarn war der beste Prototyp der Europäischen Union, bevor die Europäische Union selbst das Licht erblickte, und man konnte ohne einen Reisepass zu haben gemütlich von Lemberg nach Triest reisen.

Und schließlich sollte man daran erinnern, dass das österreichische Galizien damals ein regelrechtes Laboratorium für Nationalbewegungen war. Genau aus all diesen Gründen erwächst auch dieser starke Mythos. Bis heute bezeichnet man sowohl in Lemberg als auch in Krakau alles Gute und Hochwertige bewusst als „Galizisch“. Dies ist genau der Mythos der österreichischen Ära.

 

Über die Ursachen des Zusammenbruchs des Imperiums und mögliche alternative Szenarien

Tomáš Masaryk schrieb zu Anfang des 20. Jahrhunderts, dass im Jahr 2000 das russische Imperium 400 Millionen Menschen haben werde. Überlegen Sie mal, Masaryk ging ernsthaft davon aus, dass das russische Reich noch im Jahr 2000 existieren würde. Für jene Leute, die damals in diesen Reichen lebten, schien das alles für eine lange Zeit, wenn nicht für ewig zu sein.

Deshalb gibt es in der Tat viele Historiker, die glauben, dass das österreichisch-ungarische Reich gar nicht auseinanderbrechen musste. Obwohl dies geschah, war es nicht vorhergesagt. Sogar obwohl das Reich sehr ineffektiv war. Österreich war bekannt dafür, dass es einfach zu schlagen war. Auch die Lemberger Studenten schafften es im Jahr 1848, eine ganze österreichische Legion aus der Stadt zu vertreiben. Wir wissen, dass Franz Joseph fast alles verloren hat, was er verlieren konnte, Österreich hat alle seine Kriege verloren: die mit Italien, mit Preußen. Aber glücklicherweise war es wegen dieser Schwäche gezwungen, sich auf Reformen zu konzentrieren. Die Reformen machte das Reich nicht deshalb, weil es so gut war, sondern weil es keine andere Wahl hatte. Niederlage und Krise führen oft zu großen Veränderungen.

Ein weiteres Merkmal des österreichischen Reiches war das Fehlen eines stabilen, störungsfreien Kerns. Seine Rolle hätte der Nationalismus der Titularnation ausfüllen können, aber im Habsburger Fall wäre ein deutscher Nationalismus selbstmörderisch gewesen, da er die Mehrheit der Bevölkerung des Staates ausgeschlossen hätte. Diese Leere an dem Platz des Kerns wurde von der Person von Franz Josef selber für eine lange Zeit ausgefüllt. Glücklicherweise lebte er sehr lange, er war einer jener Monarchen, der am längsten in der Geschichte regierte. Seine Langlebigkeit fügte noch einen weiteren wichtigen Mythos über Österreich hinzu – die Stabilität. Während der Kaiser lebte, gab es den Eindruck, dass alles in Ordnung war. Erst als er starb, stellte sich heraus, dass es solche Probleme gibt.

Wir haben oft den falschen Eindruck, dass Imperien durch nationale Bewegungen an der Peripherie zusammenbrechen. Das ist nicht wahr. Nationale Bewegungen fungieren zweifellos als gewisse Katalysatoren, aber die Hauptursache für den Zerfall ist aber immer eine Krise im Zentrum. Zumeist ist eine solche Krise eine große Katastrophe, für Österreich wurde es der Erste Weltkrieg. Also, ich nehme an, wenn nicht der erste Weltkrieg stattgefunden hätte, wäre es absolut wahrscheinlich, dass wir noch heute in Österreich-Ungarn leben würden. Dies ist die erste These.

Ein Zweites: Stellen Sie sich vor, der Krieg hätte stattgefunden, aber es hätte nicht die Entente gewonnen, sondern die Mittelmächte. Es gab doch noch vor September-Oktober 1918 das Gefühl, dass eben sie gewinnen würden. Das österreichisch-ungarische Reich besetzte damals die südliche Hälfte der Ukraine, die andere - die nördliche - besetzten deutschen Truppen. Also, es war absolut wahrscheinlich, dass es im Falle ihres endgültigen Sieges zwei verschiedene ukrainische Staaten gäbe: einen deutschen, einen österreichischen. Lviv würde dann in einem Raum mit Cherson sein, aber nicht mit Kiew.

Es gibt also keine solche endgültige Beständigkeit, dass es nur so werden mußte, wie es passiert ist. Es ist nicht so geworden, weil es so in den Sternen stand, sondern allein deshalb, weil von den unterschiedlichen möglichen Szenarien genau das Wirklichkeit wurde, was passiert ist. Von all diesen Szenarien schien die Schaffung eines einzigen ukrainischen Staates umgrenzt von Lemberg, Charkiw, Kiew und Cherson am wenigstens vorhersehbar. Von dieser Version träumte man, aber niemand dachte, dass sie wirklich möglich wäre. Es geschah so, dass das beste ukrainische Projekt realisiert wurde, freilich zu einem äußerst schwierigen Preis.

 

Über das Erbe der Habsburger

Eine gewisse Antwort hierzu hat der hier von mir bereits zitierte Tomasz Zarycki gegeben. In seiner Untersuchung zeigte er drei gemeinsame Grundzüge der ehemaligen Habsburger Teile, der Ukraine und Polens, Ost- und Westgaliziens. Die gemeinsamen Grundzüge bestehen sind nicht in der nostalgischen Mythologie, sondern eben im spezifischen Verhalten der Bevölkerung. Der erste ist der Konservatismus, genauer gesagt ein deutlich höheres Niveau der Religiosität als in anderen Gebieten, und dies zeigt sich klar in der Statistik. Die zweite ist das höhere Niveau des Nationalismus oder des nationalen Bewusstseins. Wie immer auch man das nennen mag, es gibt aber noch viele Leute in der galizischen Region, für die die Nation ein zentrales Konzept bleibt. Die „Enkelkinder“ Habsburgs betrachten die Welt ausschließlich durch nationale Brillen. Hierher rührt auch das sehr hohe Niveau des Antikommunismus, weil der Kommunismus immer von außen eingeführt wurde und er das nationale Konzept verleugnet.

Und zuletzt und vielleicht das Wichtigste - das ist das bedeutend höhere Niveau der gesellschaftlichen und öffentlichen Selbstorganisation. Statistisch gesehen hat Galizien die größte Anzahl von Bürgerorganisationen pro Kopf im Land. In dieser Hinsicht wirkt das Habsburger Erbe nicht nur hier in Osteuropa, sondern auch in Nordamerika: schauen Sie nur mal, wie sehr die ukrainischen und polnischen Gemeinden in den Vereinigten Staaten oder in Kanada organisiert sind, wenn man sie mit den Einwanderern aus anderen Teilen Europas vergleicht. Hierbei ist interessant, dass es mehr ukrainische als polnische Institutionen gibt. Wir haben es geschafft, ein ukrainisches Institut an der Harvard oder Columbia University zu schaffen, die Polen haben das nicht. Aber das hat auch seine Gründe: Die Polen hatten nach dem Krieg im sozialistischen Polen viel mehr Chancen als die Ukrainer in der UdSSR.

Über die Bedeutung des österreichischen Mythos in der modernen Ukraine

 Was machen wir jetzt mit dem Mythos vom österreichischen Galizien im ukrainischen Kontext? Das ist wohl das, was uns heute am meisten interessiert. Der Mythos ist keine Lüge, er ist etwas tieferes, etwas, das versucht, uns komplexe Dinge auf eine einfachere Art und Weise zu erklären. Der Mythos vom österreichischen Galizien ist ein Mythos über die Modernisierung, über ein glückliches Leben, in dem die Menschen lange und wohlhabend leben, die Freiheit der Meinungsäußerung haben, wo es keinen Zensor gibt und so weiter. All dies koinzidiert im World happiness index - dem Welt-Index des Glücks, weil das Glück anscheinend gemessen werden kann.

 Dieser Mythos von der Modernisierung hat immer den Maßstab West-Ost und ist ein typischer Ausdruck des Diskurses des Orientalismus: der Westen, wo es all das schon gibt, ein langes wohlhabendes Leben, Freiheit des Denkens, Renovierung und Einrichtung nach europäischen Standards (Jevroremont), und der Osten, wo es das noch nicht gibt, aber der diesen Westen immer einholen oder sogar überholen will, was ihm aber nicht gelingen wird. Für uns ist dieser österreichische Mythos ein Symbol dafür, dass wir dort im Westen bereits waren, und deshalb haben wir das Recht, dorthin zurückzukehren.

 Larry Wolff schreibt in seinem Buch, dass das erste solche orientalische Konzept Osteuropas gerade im österreichischen Galizien entstand. Seitdem ist die Hauptfrage stets, wo genau diese Grenze zwischen dem Westen und dem Osten anzutreffen sei. Clemens Metternich hatte auf diese Frage eine einfache Antwort: Europa endete für ihn an den östlichen Fenstern seines Wiener Palastes, Galizien war daher fernes Asien. Für viele Galizier der 1990er Jahre war diese Grenze der Zbrutsch: Kiew wurde schon irgendwie als „nicht solch eine Ukraine“ angesehen. Für einige unserer Journalisten ist der Zbrutsch offenbar auch jetzt noch eine solche relevante Grenze. Dagegen sagt mein Kollege Jacek Purchla, Direktor des Internationalen Kulturzentrums (MCK) in Krakau, einer der größten Propaganten dieses Mythos, dass man Galizien bis zum Donbass ausdehnen muss, zur ukrainisch-russischen Grenze.

 So ist genau das das wichtigste Thema heute: Wo endet diese Grenze des „glücklichen und wohlhabenden Lebens“ - die Grenze Europas, die Grenze des ehemaligen Österreichs oder Galiziens, und die der heutigen Ukraine. Wir diskutieren nicht wirklich über die Habsburger. In Wirklichkeit verstehen wir, dass sie schon lange Geschichte sind. Wir diskutieren über die Grenzen ihres Mythos: Wie weit solle er sich erstrecken und was genau soll er bezeichnen.

 

Quelle: https://zbruc.eu/node/71155 27.09.2017 / und http://www.ji-magazine.lviv.ua/2017/Hrytsak-Schastlyva_babtsya-Avstriya.htm

Autor: Jaroslav Hrytsak

Übersetzer: Christian Weise

Jaroslav Hrytsak (* 1960) ist Professor an der Ukrainischen Katholischen Universität Lviv, hat 1996/2000 einen wichtigen Abriß der ukrainischen Geschichte und 2006 eine wichtige Iwan-Franko-Monographie publiziert. Er ist Mitglied und ukrainischer Sprecher der 2014 gegründeten Deutsch-Ukrainischen Historikerkommission (DUHK). In seinen Studien und Beiträgen pflegt er auf sehr interessante Weise weite Bögen und Ideengeschichten zu verfolgen, ohne dabei vereinfachenden Systemen wie der Geschichtsmorphologie zu verfallen.

 

Ergänzende Bibliographie:

* Mythos Galizien. Wien 2015 = engl. The Myth of Galicia. Wien-Kraków 2015.

* Yves Bizeul (Hg.), Rekonstruktion des Nationalmythos ? Frankreich, Deutschland und die Ukraine im Vergleich. Göttingen 2013.

* Tomáš Garrigue Masaryk, Russland und Europa. Studien zu den geistigen Strömungen in Russland. 2 Bde. Dt. Jena 1913.

* Larry Wolff, The Idea of Galicia. History and Fantasy in in Habsburg Political Culture. Stanford 2010.

* Tomasz Zarycki, xxx

* Àíäðeé Øàðèé, ßðîñëàâ Øèìîâ, Êîðíè è êîðîíà. Î÷åðêè îá Àâñòðî-Âåíãðèè: ñóäüáà èìïåðèè („Wurzel und Krone“. Essays zu Österreich-Ungarn: das Geschick des Imperiums). Moskva 2011.

 


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