Neue Zürcher Zeitung FEUILLETON Freitag, 17.11.2000 Nr.269 66 Who is afraid of Europe? Europäisches Zeitschriftentreffen in Wien und Bratislava Wehrhaft thront auf den felsigen Ausläufern der Kleinen Karpaten die Burganlage des alten Schlosses von Bratislava. Im Schutz der Steilhänge hingekauert liegt am Ufer der nach Osten sich weitenden Donau die ehemalige Hauptstadt des ungarischen Königreichs, Lieblingsresidenz Maria Theresias, heute die nicht nur optisch zu neuem Leben erwachte Hauptstadt der slowakischen Republik. Hier fand kürzlich das 14. Treffen der europäischen Kulturzeitschriften statt. Von Wien aus, wo das Treffen tags zuvor eröffnet worden war, hatten sich Schriftsteller, Journalisten und Vertreter von rund 40 renommierten Zeitschriften gemeinsam auf den Weg gemacht. Schon die Reise selbst war Teil des Programms, das die Treffen seit nunmehr einigen Jahren verfolgen: Ausdehnung des Kommunikationsraums nach Mittel- und Osteuropa. Vielfalt Seit 1995 waren verstärkt osteuropäische Zeitschriften eingeladen worden, 1997 hatte man sich in Moskau getroffen, 1999 in Ljubljana. An die damalige Konferenz “Ten Years after 1989 – European Identity revisited” knüpfte die diesjährige Zusammenkunft an mit dem Thema “Politics and Culture in Europe: New Visions, New Divisions”. Dem waren drei grosse Podiumsdiskussionen gewidmet. Sonja Drakulic, Beqë Cufai und György Dalos gaben jeweils eher literarisch-essayistische denn theoretisch-analytische Ausgangsstatements. Sie waren nicht alle in gleicher Weise gesprächsproduktiv, bewahrten aber jeder Diskussionsrunde gewissermassen einen assoziativen Überschuss. Von “Visionen” war in den Positionn wenig die Rede, vorherrschend war die Besorgnis angesichts neu entstehender Grenzziehungen. Man war sich einig darüber, dass der europäische Integrationsprozess auf nichtökonomischer, sprich politischer, sozialer und kultureller Ebene, derzeit akuten Gefährdungen ausgesetzt sei. Neue Nationalismen und Regionalismen, soziale Verunsicherung, zunehmende, rechtspopulistisch vereinnahmte Xenophobie wurden ebenso benannt wie das Fehlen eines gemeinsamen öffentlichen Raums. “The Uses of Diversity” lautete ein Hauptthema des Treffens. Es hätte nicht anschaulicher präsentiert werden können als in der grossen Vorstellungsrunde aller am Treffen beteiligten Zeitschriften und ihrer Herausgeber. Beeindruckend erschloss sich hier die ästhetische und inhaltliche Vielfalt der osteuropäischen Produktion. Die albanische Zeitschrift “Mehr Licht” widmet sich der Vermittlung alter und neuer Avantgarden; die kulturellen Probleme politischer Grenzgebiete bilden einen der Interessenschwerpunkte von “Ji”, der mehrsprachigen Kulturzeitschrift aus Lemberg; die dem (ehemaligen) Oppositionssender B2-92 verbundene serbische Zeitschrift “Rec” (das Wort) versucht – weiterhin – eine Debatte über Wahrheitsfindung und politische Verantwortung zu lancieren; das kroatische Magazin “Zarez” konzentriert sich auf neue Literatur und literarische Kritik; “FA-Art” aus Polen hat sich dem Postmodernismus verschrieben – was jedoch im polnischen Kontext etwas ganz anderes heisst als im westeuropäischen. Die Türkei schliesslich war vertreten mit “Varlik”. Und da wären noch all die anderen, die estländischen, die slowenischen, die bulgarischen Zeitschriften – um von Portugal, Spanien, Skandinavien, England und den deutschsprachigen Ländern vollends zu schweigen. “Eurozine” Immerhin – Zugang und Kontakt zu fast allen Periodika sind neuerdings einfacher geworden. Das elektronische Zeitschriftennetzwerk eurozine, das sich in Bratislava vorstellte, macht's möglich. Bereits 1995 war die Idee entstanden, Austausch und Zusammenarbeit der durch die jährlichen Treffen nur lose verknüpften Zeitschriften in eine “systematischere Struktur” zu bringen, und zwar durch die Nutzung des Internets. Das seit 1998 im Aufbau befindliche Projekt mit Redaktionssitz in Wien hat nun, nach mehr als zwei arbeitsintensiven Jahren, ein professionelles Niveau erreicht. Unter www.eurozine.com präsentieren sich die assoziierten Zeitschriften mit kurzen Selbstbeschreibungen, mit Inhaltsübersichten ihrer jeweils neusten Nummern und einem Artikel ihrer Wahl, der wahlweise auf Englisch, Französisch, Deutsch oder Spanisch ins Netz gestellt werden kann. Soweit vorhanden, werden Links zu den jeweiligen Homepages gegeben. Bisher sind so etwa 95 Zeitschriften virtuell präsent, darunter aus dem deutschsprachigen Raum “Daidalos”, die “Deutsche Zeitschrift für Philosophie”, “Du”, “Gegenworte”, die “Neue Rundschau”, “Merkur”, “Mittelweg 36”, “Transit”, “Wespennest” u. a., aus dem englischen z. B. die “London Review of Books” und das “Times Literary Supplement”. Das bedeutet fraglos für alle, vor allem aber für die durch sprachliche sowie markt- und vertriebsbedingte Barrieren in ihrer Reichweite besonders eingeschränkten osteuropäischen Zeitschriften neben dem Kommunikationsgewinn auch einen enormen Zuwachs an Publizität. Eurozine will aber nicht nur als Netzwerk, sondern auch als eigenständiges “netmagazine” figurieren. Das Herausgeberkomitee versucht deshalb, eine Art Debattenforum zu schaffen, indem es zu wechselnden Themenfeldern eine eigene Artikelauswahl bereitstellt. Aber wie innovativ und vielversprechend auch immer – die virtuelle Verknüpfung kann (und will) die reale Kommunikation nicht ersetzen. Für den gemeinsamen öffentlichen Raum, in dem ein kritisches Engagement für Europa erst politisch wirksam werden kann, braucht es Begegnungen und (Streit-)Gespräche der realen Art. Sie fanden in Wien und Bratislava abseits der Podiumsdiskussionen statt, auf Spaziergängen tagsüber, abends auf den verschiedenen Empfängen und in den immer kürzer werdenden Nächten im Hotel Sorea, in dem 1968 Breschnew mit Dubcek zusammengetroffen sein soll, um ihm feierlich zu versprechen, die Sowjetunion werde niemals in Prag einmarschieren. Barbara von Reibnitz |