back The Independent cultural journal “JI”

Tages Anzeiger 30. Mai 2002

Ein geistiger Freiraum am östlichen Rande Europas

In der Ukraine werden die Medien von der Regierung gegängelt. Eine Oase in der öden Medienlandschaft bildet die in Lemberg (Lviv) herausgegebene Zeitschrift “Ji”.

Von Roman Berger, Lemberg

Einen Besuchsraum gibt es bei der Redaktion der Zeitschrift “Ji” im westukrainischen Lemberg (Lviv) nicht. In den zwei kleinen Zimmern wird weiter telefoniert und an Computern gehackt, während der Chefredaktor ein Interview gibt. “Die Zeitschrift ist jetzt schon mehr als zehn Jahre alt. Das ist viel in einem Land wie der Ukraine, das erst vor zehn Jahren unabhängig geworden ist und in dem noch wenig langfristig Bestand hat”, meint Taras Wozniak, Chefredaktor und einer der Gründer von “Ji”. Die ersten Nummern wurden mit Schreibmaschine getippt und in Litauen gedruckt. “Wir, eine Gruppe von Intellektuellen, publizierten Texte von Heidegger, Jaspers, Roth und Gadamer, Texte, die wir schon in den 7oer-Jah-ren übersetzt hatten”, berichtet Wozniak. “Ji” war von 1989 bis zur offiziellen Registrierung im Jahre 1991 eine Dissidentenzeitschrift. Das erklärt auch den Namen der Zeitschrift. Das Ukrainische hat vom Russischen das kyrillische Alphabet übernommen. Im Ukrainischen gibt es aber einen Buchstaben, den es im Russischen nicht gibt: den Buchstaben “Ji”. Lemberg war damals das Zentrum der ukrainischen Unabhängigkeitsbewegung. “Ji” stand und steht also für eine eigenständige, nach Europa ausgerichtete Ukraine.

In der Vierteljahreszeitschrift “Ji” sind heute aber kaum Beiträge zu finden, die bei der jetzigen, immer noch stark sowjetisch geprägten Regierung direkt anecken könnten, Wozniak und sein Team verfolgen eine andere, längerfristige Strategie: “Wir publizieren Material, das sonst nirgendwo zu finden ist und den Leser zum Weiterdenken anregt.” Zu einem anderen, offeneren Denken, so lässt sich Wozniaks Gedanke weiterspinnen, das die immer noch in einer Identitätskrise steckende ukrainische Gesellschaft in die Lage versetzen soll, die Zukunft ihres Landes selber zu gestalten. Natürlich ohne die jetzige Machtclique.

Ein einzigartiger Freiraum

Seit 1995 wird “Ji” von der deutschen Heinrich Böll Stiftung unterstützt. Das gibt der Zeitschrift einen einmaligen Freiraum in einem Land, in dem die meisten Medien von Industriemagnaten finanziert werden, die ihrerseits von der Regierung abhängig sind. Wie offen und weltumspannend “Ji” ist* zeigt eine Nummer zum Thema “Globalisierung, Europa und die Ukraine”. Da kommen neben ukrainischen Autoren Amerikaner wie Lester Thurow, Francis Fukujama, Zbignew Brzezinski, aber auch der mexikanische Aufständische Marcos, der britische Historiker Robert Conquest, Daniel Cohn Bendit oder die Schweizer Peter Bichsel und Josef Jurt zu Wort.

Schwerpunktthema der Zeitschrift ist die Grenzlage der Ukraine. Auf Deutsch übersetzt heisst Ukraine “am Rande”. Die Randlage der Ukraine ist in der West-Ukraine besonders schmerzhaft spürbar. Auf Grund ihrer Geschichte gehört diese Region ebenso zu Europa wie die Nachbarländer Polen, die Slowakei oder Ungarn, die bald in die EU aufgenommen werden. In Brüssel jedoch wird die Ukraine als nicht EU-kompatibel eingestuft und muss noch lange Zeit draussen bleiben.

“Ji” sieht in dieser schwierigen Randlage aber auch eine Herausforderung. “Wir müssen selber Ideen und Initiativen entwickeln. Wenn wir nicht reagieren, bleiben wir für immer am Rande”, meint Sofia Onufriv, eine Redaktorin von “Ji”. Die Zeitschrift sucht aktiv den Kontakt zu einer grösseren Öffentlichkeit, veranstaltet regelmässig Seminare und grenzüberschreitende Konferenzen. “Auf diesem Weg erfahren wir, was die Bevölkerung wirklich bewegt und was zu tun ist”, berichtet Onufriv. Ausgewählte Texte werden auf Deutsch oder Englisch übersetzt und können auf einer vorbildlich gestalteten Website (www.ji.lviv.ua) nachgelesen werden.

Das Land zwischen Russland und Polen ist auch nach zehn Jahren Unabhängigkeit in sich gespalten. Die Westukraine sieht ihre Zukunft mit Europa, die Ostukraine und die Halbinsel Krim stehen Russland nahe. Unter einem zentralistischen Regime kann sich die Ukraine nicht entwickeln. Im vergangenen Jahr publizierte “Ji” eine dreihundert Seiten starke Nummer zum Thema Föderalismus, die von der Pro Helvetia mitfinanziert wurde. “Unsere Elite spürt die Regionen nicht. Bis vor kurzem wurde Föderalismus in unserem Land als Separatismus verteufelt, als Gefahr für die Integrität des noch jungen Staates”, so beschreibt Sofia Onufriv die mühsame Aufklärungsarbeit, die “Ji” leisten muss.

Orden für intellektuelle Courage

Die Zeitschrift auch unkonventionelle Wege. Kürzlich hat sie erstmals einen Orden für intellektuelle Courage verliehen. Damit ausgezeichnet wurde der ehemalige Aussenminister Borys Tarasiuk. “Wir haben ihn geehrt”, so Sofia Onufriv, “weil er eine proeuropäische Aussenpolitik führte, sich im Rahmen seiner Möglichkeiten gegenüber der aktuellen Regierung kritisch äusserte. Er war ein mutiger, kluger Mensch, der sich von der Macht nicht vereinnahmen liess.”