Ukrainisch-Polnisch-Deutsch-Jüdischer Dialog12. – 13. Mai 2004 |
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Organisatoren: Themen 1. Jüdisches Leben heute: Ukraine und Deutschland 2. Ukrainer, Polen, Juden und Deutsche 3. Neue Grenzen und Grenzregionen Europas – Die Ukraine zwischen Europäischer Union und Russland |
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Programm Mittwoch, 12. Mai 2004 17:00 Uhr Begrüßung Olexander Sendega Werner Weidenfeld Lord Weidenfeld of Chelsea 17:30 Uhr Ukrainer, Juden, Polen und Deutsche Myroslŕv Popovych Rita Süssmuth Konstanty Gebert Shlomo Avineri 20:00 Uhr Dinner Donnerstag, 13. Mai 2004 09:00 Uhr Jüdisches Leben heute: Die Ukraine und Deutschland Leonid Finberg Zvi Gitelman Rachel Salamander 11:00 Uhr Kaffeepause 11:30 Uhr Neue Grenzen und Grenzregionen Europas – Die Ukraine zwischen Europäischer Union und Russland Borys Tarasyuk Dietmar Stuedemann Bogumila Berdychowska 13:30 Uhr Mittagessen 15:00 Uhr Ethnische und religiöse Identitäten und die Entstehung der ukrainischen Nation - Einführung und Rundgang durch das historische Stadtzentrum Lembergs Vasyl Kuybida Taras Voznyak 20:00 Uhr Dinner Teilnehmerliste
„Ukrainer, Polen, Juden und Deutsche“Ausgangslage Als unabhängiger, nichtkommunistischer Nationalstaat bestand die Ukraine nach 1917 nur kurzzeitig und mit Unterbrechungen und erstreckte sich zu keinem Zeitpunkt über das Staatsgebiet der heutigen Ukraine. Über weite Strecken der Geschichte standen die Ukrainer im Schatten der benachbarten Staatsvölker, zunächst der Polen, dann der Russen. Die Juden in der Ukraine haben bereits vor der von Deutschen verübten Schoah in besonderem Maße unter den Konfrontationen zwischen Russen, Ukrainern und Polen gelitten. Im 19. Jahrhundert bildete die Ukraine den Kern des jüdischen Ansiedlungsrayons im russischen Reich. Die jüdische Gemeinde der Ukraine gehört zu den ältesten und kulturell fruchtbarsten der Welt. Im Laufe ihrer über tausendjährigen Geschichte gingen von hier immer wieder wesentliche Impulse für die jüdische Religion und Kultur aus. Die Geschichte beispielsweise des Hassidismus, aber auch des Zionismus ist ohne den Beitrag ukrainischer Juden nicht denkbar. Heute leben in der Ukraine zahlreiche ethnische und religiöse Minderheiten. Anders als in vielen anderen früheren Sowjetrepubliken ist es in der Ukraine nach der Unabhängigkeit aber nicht zu massiven ethnischen oder religiösen Konflikten gekommen. Die gegenseitige Wahrnehmung von Ukrainern, Polen, Juden und Deutschen ist bis heute von den historischen Erfahrungen insbesondere des 20. Jahrhunderts, dem Zweiten Weltkrieg und der Schoah geformt. Noch kennzeichnen Misstrauen und Vorurteile den Umgang miteinander, doch neuere historische Betrachtungen bringen auch Interesse an positiven Aspekten der gemeinsamen Vergangenheit hervor. Problem Die wiederholten Besetzungen und Teilungen ihres Landes, die Ermordung der Eliten und Widerstandskämpfer durch Kommunisten und Nationalsozialisten waren traumatische Schlüsselerlebnisse für Ukrainer, Polen und Juden. Der Völkermord an den Juden zerstörte eine der größten und wichtigsten jüdischen Gemeinden der Welt. Ukrainer, Polen und Juden waren - auf unterschiedliche Weise - Opfer der Kommunisten und der Nationalsozialisten. Auch nach Kriegsende noch kursierende negative Stereotypen voneinander verzerrten jedoch das Geschichtsbild. Viele Fragen an das eigene Handeln zu Kriegszeiten, beim Mord an den Juden oder bei den anschließenden Vertreibungen wurden lange eindimensional beantwortet oder blieben ungeklärt, so dass ein schwer zu durchschauender Teufelskreis gegenseitiger Clichées und Halbwahrheiten über Täter, Opfer und Mittäter entstand. Erst der Wandel der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse erlaubte den Historikern eine ideologisch unbelastete Aufarbeitung der Geschichte der Beziehungen zwischen Ukrainern, Polen, Juden und Deutschen, die heute engagiert vorangetrieben wird. Fragen zur eigenen Geschichte, zu Restitution und Vertreibung bilden dabei schmerzvolle Kristallisationspunkte in der Diskussion. Doch sie öffnen auch den Blick für ehemals Verbindendes, für die faszinierende Mehrdimensionalität der gegenseitigen Beziehungen insbesondere in der Westukraine, dem früheren Galizien oder der Bukowina. Kaum eine Beziehung wie die der Ukrainer, Polen, Deutschen und Juden bietet heute noch so viel Neuland, das es gemeinsam zu erforschen gilt. Die ukrainisch-polnisch-deutsch-jüdische Aussöhnung, deren Themen mit Gespür für die Verantwortung für die Vergangenheit diskutiert werden müssen, bleibt eine wichtige Herausforderung auch für den europäischen Integrationsprozess. Fragestellungen Welches sind die historischen Entwicklungslinien im Verhältnis zwischen Ukrainern, Polen, Juden und Deutschen? Können die unterschiedlichen historischen Narrative in Einklang gebracht werden? Welche positiven Gemeinsamkeiten existieren zwischen Ukrainern, Polen, Juden und Deutschen? Wie kann die Annäherung zwischen den Ukrainern, Polen, Juden und Deutschen über die bloße zwischenstaatliche Aussöhnung hinaus befördert werden? Welche Rolle spielen deutscher, polnischer oder ukrainischer Antisemitismus in der Debatte? Gesprächsziel Die erste Gesprächsrunde soll die Entwicklung der gegenseitigen Wahrnehmung vor dem Hintergrund historischer und aktueller Einflüsse beleuchten. Der Dialog soll Anregungen zu neuen Fragestellungen geben, die auch den Blick für positive gemeinsame Erfahrungen öffnen. „Jüdisches Leben heute: Ukraine und Deutschland“Ausgangslage Heute, mehr als ein Jahrzehnt nach dem Zusammenbruch des Sowjetregimes und einem Massenexodus vieler vormals sowjetischer Juden insbesondere aus Russland und der Ukraine nach Israel, aber auch in die USA und nach Deutschland, leben noch knapp 500.000 Juden in der Ukraine. Die Renaissance jüdischer Religion und Kultur in den mittel- und osteuropäischen Staaten begann in großem Umfang Ende der 1980er Jahre. Zum ersten Mal frei von staatlichen Zwängen und Assimilationsdruck entwickelten ihre Mitglieder ein Selbstbewusstsein, das ihren Eltern verwehrt worden war. Problem Die Massenauswanderung von Juden hat zu einer massiven demografischen Veränderung geführt. Heute sind mehr als die Hälfte der Juden in der Ukraine alte Menschen. Die meisten von ihnen benötigen soziale, medizinische und nicht zuletzt finanzielle Unterstützung, da ihre Renten nicht ausreichen, um selbst grundlegende Bedürfnisse zu stillen. Die jüdischen Gemeinden in der Ukraine versuchen mit Unterstützung internationaler jüdischer Organisationen und örtlicher Geschäftsleute, diesen Notstand zu lindern. Die Entwicklung jüdischen kulturellen und sozialen Lebens in der Ukraine hat zu einer neuen Situation geführt, in der Mischehen nicht mehr automatisch zur Assimilation führen, sondern häufig zur Identifizierung der Mitglieder gemischter Familien mit dem Judentum. Allerdings ist das Wissen um die religiösen und kulturellen Grundlagen des Judentums nicht zuletzt wegen der Repression zur Zeit des kommunistischen Regimes gering, und es bedarf großer Anstrengungen zur Vermittlung des jüdischen Erbes. Auch deutsche Juden können kaum auf die Traditionen des vertriebenen und ermordeten deutschen Judentums zurückgreifen. Wie alle „neue Juden“ Europas unterscheiden sie sich in großem Maße von denen der zerstörten Vorkriegsgemeinden. Sie haben verschiedene ethnische, kulturelle und religiöse Hintergründe, Loyalitäten und Identitäten und bilden eine heterogene Gruppe. Der Zustrom nichtreligiöser Juden aus den GUS-Staaten stellt dazu eine große Herausforderung an die Integrationsleistung bestehender Gemeinden in Deutschland dar. Aus dem vielfältigen Kaleidoskop unterschiedlicher Herkunft und religiöser und kultureller Traditionsbestände können neue jüdische Identitäten in der Ukraine, Deutschland und anderen europäischen Ländern entstehen. Nach Jahrhunderten der Diskriminierung und Verfolgung setzen sich Juden in Europa heute mit ihrer Lage als gleichberechtigte Staatsbürger ihres jeweiligen Landes und der Möglichkeit, die jüdische Identität ihrer Wahl zu leben, auseinander. Die Revitalisierung jüdischer Kultur ist hier wie da ein komplexer, gerade begonnener Prozess mit ungewissem Ausgang. In Deutschland stößt das neue jüdische Leben dabei auf ein erhebliches Interesse der nichtjüdischen Bevölkerung an jüdischer Geschichte, Kultur und Religion. Von einer „Normalität“ jüdischen Lebens kann aber zumindest in Deutschland noch keine Rede sein. Nach wie vor, vielleicht sogar in zunehmendem Maße sehen sich jüdische Bürger hier bei der Ausübung ihrer Religion und Kultur Diskriminierung und Bedrohungen ausgesetzt. Fragestellungen Mit welchen sozialen, kulturellen und politischen Problemen sehen sich die jüdischen Gemeinden in der Ukraine und Deutschland konfrontiert? Welche Unterstützung benötigen die jüdischen Gemeinden zur Erfüllung ihrer vielfältigen Aufgaben? Wie wird die Renaissance der jüdischen Gemeinden von der nichtjüdischen Bevölkerung Deutschlands und der Ukraine wahrgenommen? Welche Rolle spielen Israel und der Nahostkonflikt für den Umgang von Juden und Nichtjuden miteinander in der Ukraine und Deutschland sowie in Europa überhaupt? Gesprächsziel Die Teilnehmer sollten sich über Möglichkeiten und Zukunftsperspektiven neuen jüdischen Lebens in der Ukraine und Deutschland austauschen. Gefragt wird außerdem, ob und inwiefern es einen „neuen“ Antisemitismus gibt. „Neue Grenzen und Grenzregionen Europas – Die Ukraine zwischen Europäischer Union und Russland“Ausgangslage Nach dem Ende des Kalten Krieges fand sich die Ukraine in einer prekären Lage zwischen den neu entstehenden geopolitischen Realitäten wieder: zwischen einer Erweiterung anstrebenden Europäischen Union und NATO einerseits und einer instabilen Re-Integration der ehemaligen Sowjetrepubliken unter der Führung Russlands andererseits. Anders als ihre mitteleuropäischen Nachbarstaaten konnte die Ukraine nicht auf einen baldigen Beitritt zur EU setzen und blieb weitgehend vom russischen Nachbarn abhängig. Hinzu kommt, dass die Ukraine historisch durch das mittelalterliche Kiewer Reich an der Wiege des russischen Staatskonzepts stand, während die heutige Westukraine, das ehemalige Galizien, im Mittelalter und lange danach dem polnisch-litauischen Staatswesen angehörte und später hier und in der von Habsburg maßgeschneiderten Bukowina die Mitteleuropa-Idee des K.u.K.-Reichs propagiert wurde. Vor diesem Hintergrund wird die Schaukelpolitik der Ukraine zwischen Ost und West häufig auch als eine Auseinandersetzung zwischen zwei Kulturen interpretiert: der europäischen, die von der Westukraine verkörpert wird, und der panslawischen oder eurasischen der Ostukraine. Gleichzeitig stellt sich auch innerhalb der Europäischen Union immer stärker die Frage nach dem Kern der eigenen Identität, wird die Europäische Union immer stärker mit Europa gleichgesetzt und die Frage der Begrenzung immer vordringlicher gestellt. Problem Strategisch besteht die Herausforderung für die Ukraine darin, den richtigen Kurs zu finden zwischen zwei langfristigen Zielen: der Anbindung an die Europäische Union mit der dafür erforderlichen politischen und wirtschaftlichen Transformationsleistung hin zu demokratischen und marktwirtschaftlichen Verhältnissen einerseits und der Fortsetzung starker wirtschaftlicher und politischer Beziehungen zu den GUS-Staaten, insbesondere Russland, andererseits. Durch den Beitritt zur Europäischen Union der unmittelbaren Nachbarstaaten Polen, der Slowakei und Ungarn im Mai 2004 verläuft die Ostgrenze der Europäischen Union heute entlang der Grenze zur Ukraine. Dies zwang die Beitrittsstaaten zur Einführung der Visapflicht für ukrainische Staatsbürger. Dies hat nicht nur wirtschaftliche Auswirkungen etwa für den kleinen Grenzverkehr, sondern auch gravierende psychologische Folgen. In der Wahrnehmung vieler gerade westlich orientierter Ukrainer droht hier ein neuer eiserner Vorhang, ein Cordon Sanitaire zu entstehen. Die Europäische Union muss sich dabei grundsätzlich die Frage stellen, wie sie das Verhältnis zu den neuen östlichen Nachbarstaaten, der Ukraine, aber auch Weißrussland und Moldawien langfristig gestalten will. Anders als in den osteuropäischen Beitrittstaaten gibt es in diesen Ländern keinen nationalen Konsens bezüglich der Zugehörigkeit zu Europa vor dem Hintergrund starker Verbindungen zu Russland. Die Aufnahme dieser Länder würde daher schwerwiegende Fragen bezüglich der Abgrenzung der Europäischen Union gegenüber Russland aufwerfen. Fragestellungen Welche Auswirkungen wird die Osterweiterung der Europäischen Union auf die Beziehungen zur Ukraine haben? Welche Konsequenzen wird dies für die wirtschaftliche und politische Transformation der Ukraine haben? Wie kann die Europäische Union einen positiven Beitrag für die weitere wirtschaftliche und politische Entwicklung der Ukraine leisten, ohne die eigenen Ressourcen vor dem Hintergrund der zu erbringenden Integrationsleistungen für die neuen Mitgliedsstaaten zu überfordern? Was für eine Rolle spielt Russland in diesem Zusammenhang? Welche Szenarien sind vorstellbar und plausibel für die weitere Entwicklung der Ukraine zwischen der Europäischen Union und Russland? Gesprächsziel Die Gesprächsrunde soll Chancen und Risiken für die Entwicklung der Ukraine zwischen Europäischer Union und Russland aufzeigen. |