Im Rahmen des deutsch/französischen und ukrainisch/polnischen Projektes
“GESPRÄCH ÜBER GRENZEN” veranstaltet das Studienhaus Wiesneck vom
06. bis 10. September 2002 ein Seminar fĂĽr Teilnehmer aus den beiden
europäischen Grenzregionen. Arbeitstitel:
Postsowjetischer Zentralismus
versus
Föderalismus, Regionalismus -
Der Fall Ukraine.
Das Projekt “GESPRÄCH ÜBER GRENZEN” entstand 1997 im Rahmen des
Kulturaustauschs zwischen den Partnerstädten Freiburg und Lemberg. Nach
den beiden ersten deutsch/ukra-inischen Tagungen in Freiburg 1997 und
Lwiw 1998 fand dann vom 22. bis zum 25. Mai 2001 in Lwiw und Przemysl
eine internationale Konferenz zur kĂĽnftigen AuĂźengrenze der EU statt
- “WAS FOLGT AUF DIE OSTERWEITERUNG DER EUROPÄISCHEN UNION – DER
FALL POLEN/UKRAINE”. Alle bisherigen Veranstaltungen wurden dokumentiert
in zwei- bzw. viersprachigen Sonderausgaben der ukrainischen Zeitschrift
für Politik und Kultur “ Ï ”, Nr. 11, 12 und 20.
Träger des Projektes sind in Lwiw die NGO “ Ï ”
(u.a. gefördert von der Heinrich-Böll-Stiftung) und in Freiburg die
West-Ost-Gesellschaft SĂĽdbaden (in Zusammenarbeit mit dem Kulturamt der
Stadt Freiburg).
Zum Inhalt:
Die Aktualität: Das Thema “Föderalismus” kam in der Ukraine nicht
als ein akademisches auf, sondern als Resultat höchst konkreter Problemstellungen.
Im Falle Lwiw: Die städtischen wie auch die Oblast-Behörden haben wenig
Möglichkeiten, auf eigene Faust und grenzüberschreitend mit den polnischen
Nachbarn zu kooperieren. In den meisten Fällen schreibt die zentralistische
Verfasstheit des postsowjetischen Staates Ukraine die administrativen
und politischen Umwege ĂĽber Kiew vor, wo in der Tat sehr wenig Vorstellung
über die Realität der westlichen Grenzregion, dafür umso mehr Vorurteile
gegen föderalistische bzw. regionalistische Tendenzen existieren.
Diese Vorurteile entspringen aus zweierlei Ă„ngsten:
Einmal aus der (vormals) sowjetischen Furcht vor jeder regionalen/lokalen
Eigeninitiative, die damals automatisch als “Vendée”, als “Nationalismus”,
“Separatismus”, als geheimes Wirken des Klassenfeindes und als Versuch,
die Moskauer Zentral-Macht zu unterminieren, beargwöhnt, bekämpft und
aufs Schärfste verfolgt wurde. Derartige Eigenständigkeit widersprach
der dogmatisch verstandenen egalitären Sowjet-Ordnung und dem Prinzip
der totalen Kontrolle, auf das sowohl Staat als auch Partei eingeschworen
waren. In dieser Tradition argumentieren auch heute immer noch sämtliche
Links-Parteien und die “Partei der Macht”.
Dazu kommt zweitens auf der rechten Seite des politischen Spektrums
die Furcht um die fragile und “junge” Staatlichkeit der Ukraine. Alle
nationalistisch orientierten Parteien und Medien pflegen ihren Argwohn
gegen “separatistische” Eigenständigkeiten beispielsweise auf der
Krim oder im Donbas oder in den transkarpathischen Gebieten und fordern
eine absolute Konzentration der Macht in der Hauptstadt Kiew.
In den ersten Jahren der Unabhängigkeit scheiterten an den oben genannten
Vorurteilen sämtliche Versuche, föderalistische Ideen aus den Vereinigten
Staaten oder Westeuropa fĂĽr ihre Anwendung in der Ukraine zu ĂĽberprĂĽfen.
Das hat sich inzwischen geändert. Denn immer deutlicher zeigt sich, dass
die “Partei der Macht” die Ängste um die gefährdete Staatlichkeit
zum Zweck des bloĂźen Machterhalts instrumentalisiert hat. Wenn irgendwo
im Land angebliche “separatistische Tendenzen” denunziert werden,
sind in Wirklichkeit oft nur demokratische Tendenzen gemeint, Elemente
kommunaler und regionaler Selbstverwaltung, unternehmerische Eigeninitiative,
grenzĂĽberschreitende Zusammenarbeit, Pflege regionaler Besonderheiten
etc.
In Galizien hat sich die Debatte um die Entwicklung einer gewissen regionalen
Eigenständigkeit und der Einführung föderalistischer Elemente in die
ukrainische Politik an der Debatte um die künftige Ostgrenze der Europäischen
Union entzĂĽndet. Gerade weil die (durch und durch nationalistischen!)
Politiker aus der Westukraine erleben mussten, dass die “Partei der
Macht” in Kiew keinerlei Verständnis für die Probleme der westlichen
ukrainischen Grenzregion aufbrachte, interessieren sie sich nun fĂĽr demokratische
Modelle aus der westeuropäischen und amerikanischen Tradition, deren
Anwendung in der Ukraine erlauben würde, eine mehr eigenständige, selbstverantwortliche
und grenzĂĽberschreitende Politik im Interesse der verschiedenen ukrainischen
Regionen zu betreiben.
Das heißt: Die bisher verpönte und verteufelte Debatte über den Föderalismus
ist nun tatsächlich eröffnet. Infolgedessen hat die Gruppe um Ji beschlossen,
der ukrainischen Ă–ffentlichkeit fĂĽr diese Debatte das notwendige Material
zu liefern. Einerseits im Rahmen der laufenden Lemberger Seminare, andererseits
durch geeignete Publikationen, schlieĂźlich auch durch gemeinsame Projekte
mit westeuropäischen Partnern.
Das geplante Wiesneck-Seminar (einschlieĂźlich der Vorarbeiten, die
schon angelaufen sind, und die spätere Auswertung) soll vor allem Grundlagen
klären und so die ukrainischen Teilnehmer befähigen, sich fundierter
an der aktuellen ukrainischen Föderalismus-Debatte zu beteiligen, als
das bisher der Fall ist. Die deutschen Teilnehmer erhalten die Möglichkeit,
am Fallbeispiel Ukraine bestimmte politische Strukturprobleme der postsowjetischen
Transformations-Staaten kennenzulernen und mit kompetenten Gesprächspartnern
zu erörtern.
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